Europaweit wird über die Aufnahme von Kindern aus dem Flüchtlingslager Moria diskutiert.

Foto: EPA/Tosidis

Soll man Kinder aus dem abgebrannten Flüchtlingslager Moria nach Österreich holen? Über diese Frage ist in den vergangenen Tagen eine scharfe Debatte entstanden. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) blieb trotz Appellen des grünen Koalitionspartners, aus der Zivilgesellschaft und der Kirche bei seinem Nein. Denn Österreich habe bereits viel geleistet, sagte Kurz am Sonntag in der "ZiB 2". 3.700 Kindern sei allein heuer Asyl gewährt worden, so der Kanzler. Und insgesamt 200.000 Menschen seien seit 2015 aufgenommen worden.

Seither wurden diese Zahlen wiederholt infrage gestellt. Caritas-Wien-Geschäftsführer Klaus Schwertner schrieb Dienstagfrüh auf Twitter, dass "nicht 3.700 Kinder", sondern "571 Kinder und Jugendliche" im ersten Halbjahr 2020 in Österreich Asyl beantragt hätten.

Auch Judith Kohlenberger, Migrationsforscherin der Wirtschaftsuni Wien, sprach bereits am Samstag in einer Einordnung davon, dass von Kurz "einige Fakten über Flucht und Asyl schlicht falsch wiedergegeben wurden". So seien etwa unter den vom Kanzler genannten aufgenommenen Kindern viele überhaupt erst in Österreich zur Welt gekommen. "Diese als 'aufgenommene' Kinder auszuweisen erscheint mir statistisch heikel", sagt Kohlenberger. Die Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge, die bis Juli 2020 in Österreich einen Asylantrag gestellt haben, beträgt laut Asylstatistik des BMI 577.

Doch auch Kurz' Aussage, Österreich habe seit 2015 insgesamt 200.000 Menschen aufgenommen, suggeriert laut Kohlenberger ein falsches Bild. Ein Blick in die Asylstatistik zeigt, dass zwischen 2015 und Juli 2020 insgesamt 188.556 Asylanträge gestellt wurden. Sollte Kurz in seiner Rechnung die Zahlen von August 2020 miteinberechnet haben – die öffentlich noch nicht zugänglich sind –, dann könnte man in die Nähe der 200.000 Asylanträge kommen.

"Um diese Zahl ging es mir bei meiner Einordnung aber gar nicht", sagt Kohlenberger gegenüber dem STANDARD. Ausschlaggebend sei vielmehr, dass der Kanzler mit seinen Aussagen suggeriert, dass all diese Menschen in Österreich bleiben dürfen. "Und das stimmt natürlich überhaupt nicht." Rechnet man alle positiven Asylentscheidungen und Gewährungen von subsidiärem Schutz von 2015 bis inklusive Juli 2020 zusammen, dann kommt man auf die Zahl 108.081.

judithkohlenberger

Fehlende Transparenz

Wie genau Kurz auf die Zahlen, die er im Video nennt, kommt, und wie er zu der Kritik der Irreführung steht, dazu war trotz Anfrage vorerst keine Stellungnahme aus seinem Kabinett zu bekommen. Zur Frage der aufgenommenen Kinder sagte der Kanzler in der "ZiB 2", es gehe ihm um die insgesamt positiven Asylanträge bei Kindern. Dass darunter überwiegend Menschen sind, die ihren Antrag schon vor Monaten oder Jahren gestellt haben, kommentierte er nicht weiter. Anders gehe sich das nicht aus, sagte Diakonie-Geschäftsführer Christoph Riedl ebenfalls in der "ZiB 2".

Doch hier ergibt sich ein ganz anderes Problem, sagt Kohlenberger. Nämlich dass die gesamten Zahlen zu positiven Asylbescheiden von Kindern, also auch jene, die mit Familie nach Österreich kommen, in der öffentlichen Asylstatistik gar nicht ausgewiesen werden. "Auf einer Metaebene muss man sich also schon Fragen: Bräuchten wir hier nicht mehr Transparenz, denn wer hat denn hier überhaupt die Deutungshoheit?" Wenn der Kanzler den exklusiven Zugang zu diesen Daten hat, dann seien seine Aussagen auch schwer widerlegbar. Gerade bei einem so heiklen Bereich wie dem Thema Asyl bräuchte es allerdings Transparenz, meint Kohlenberger.

Zwei unterschiedliche Ebenen

Aktuell wird die Debatte auf zwei unterschiedlichen Ebenen geführt: Bei Moria geht es um die Frage, ob akut Kinder nach Österreich gebracht werden, die dann einen Asylantrag stellen. Kurz antwortet jedoch mit der Zahl der Personen, die schon vor einiger Zeit in Österreich angekommen sind und bereits einen positiven Bescheid erhalten haben.

Wie schnell in dieser Diskussion Begriffe vermischt werden, zeigte der Jurist und Uni-Lehrbeauftragte Ralph Janik in einem Blogbeitrag: So gilt völkerrechtlich jeder Minderjährige (unter 18 Jahren) als "Kind", während der Gesetzgeber in Österreich das anders regelt. Ebenso verwirrt viele Menschen das Wort "Migrant": Grundsätzlich ist das jeder Mensch, der sein Heimatland verlässt. Tut er das aus bestimmten Gründen ("Furcht vor Verfolgung"), ist er ein "Flüchtling". (fsc, jop, 15.9.2020)