Schalten Sie auf stumm und lassen Sie die Herren mit dem "Hausverstand" reden? Genau hinhören lohnt sich.

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Die vergangene Woche war keine gute. Die ohnehin schon fürchterliche Situation für geflüchtete Menschen in Moria verschärfte sich katastrophal. Und dazu dann einmal mehr die Erkenntnis, dass viel zu viele österreichische Politiker*innen ethische Mindeststandards nicht annähernd als Teil ihres Jobprofils ansehen. Munter redete man sich mit wilden sprachlichen Wendungen und Wortschöpfungen drum herum. Und während man die sinnentleerte Rhetorik von Ministerinnen hämisch "aufdeckt", bleiben die widersinnigen Aussagen ihrer Kollegen in vielen Aspekten unerwähnt. Man weiß gar nicht, wo anfangen.

Fakt oder "erlebte Wahrheit"?

Vielleicht sind die Inszenierungen von vernünftigem und ruhigem Handeln ein guter Anfang. Etwa in dem vielzitierten "ZiB 2"-Interview mit Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP): Man müsse sich genau überlegen, welche Signale man aussende, so Schallenberg, und er spricht damit den von der ÖVP oft ins Feld geführten Pull-Effekt an. Dieser besagt: Wenn wir jetzt Menschen aufnehmen, kommen immer wieder welche nach. Und irgendwann leisten wir nur mehr "Sisyphusarbeit", wie es der Außenminister ausdrückt. "Genau überlegen", das klingt ja ganz gut. Doch sobald Schallenberg auf die fehlenden Belege für diesen Effekt angesprochen wurde, wurde es vielmehr unüberlegt. Da war dann plötzlich vom "Hausverstand" die Rede, von der "Wahrheit, die wir 2015" erlebt hätten. Ist das eine vernünftige Antwort angesichts des Faktums, dass der Pull-Effekt bisher nicht belegt werden konnte? Und auch die Rede von der "Deemotionalierung" hat weniger mit Vernunft zu tun, als sie vorgibt, wie es dieser Tweet auf den Punkt bringt:

Der Ethiker und Theologe Ulrich Körtner hat am Sonntag bei "Im Zentrum" auch deutlich gemacht, dass die Aufnahme von Menschen aus Moria nicht nur ein moralisches, sondern auch ein Gebot der politischen Klugheit ist. Denn wie vernünftig ist es, mit dem Argument keine Menschen aus Moria aufnehmen zu wollen, dass es noch immer keine europäische Lösung gibt, während man gleichzeitig als die "Speerspitze der Visegrád-Staaten" auftritt, wie es Körtner formuliert. Als Speerspitze jener Staaten, die diese europäische Lösung mit einer Verteilung von Geflüchteten auf alle Staaten nicht wollen und diese verhindern? Die ÖVP blockiert demnach diesen ständig von ihr selbst vorgebrachten Lösungsvorschlag. Das ist ziemlich irrational.

Schlechtes Gewissen und flexible Solidarität

Und dann wären da noch diese wilden rhetorischen Wendungen in dieser Debatte. Sebastian Kurz sagte kürzlich, geflüchtete Menschen deshalb nicht aus ihrer Not in Moria nach Österreich holen zu wollen, weil er das nicht mit seinem "Gewissen vereinbaren kann". Wie bitte? Er kann es mit seinem Gewissen deshalb nicht vereinbaren, weil er bei jenen Geflüchteten, die ein angeblicher Pull-Effekt zu uns bringen könnte, hart bleiben will? Also auf seiner eigenen Linie bleiben will? Originell war auch eine Redewendung der Bundesministerin für EU und Verfassung, Karoline Edtstadler (ÖVP), die – ebenfalls bei "Im Zentrum" – meinte, dass wir eine "flexible Solidarität" brauchen. "Gewissen" und "Solidarität", diese armen Begriffe wurden da in für sie völlig fremde Sphären der Bedeutung entführt.

Und dann noch dieser Gendereffekt

Und zu guter Letzt gab es auch einen unangenehmen Gendereffekt bei diesen jüngsten Debatten, bei den abenteuerlichen Wortschöpfungen und dem zur Schau getragenen rationalen Gebaren. Da beschäftigte man sich in sozialen wie auch klassischen Medien leidenschaftlich mit der Aussage von Integrations- und Frauenministerin Susanne Raab (ÖVP), für Wien wolle sie kein "Little Italy".

Es entsteht schon länger der Eindruck, vor allem Politiker*innen der Bundesregierung werden in der medialen Kritik als deplatziert beschrieben, als Kurz- Marionetten oder "patschert", wie ein Kollege schrieb. Nun, wir wären gut beraten, ihre Aussagen nicht als Hoppalas abzutun, sondern ernst zu nehmen. Im Falle von "Little Italy" bedeutet das, Raabs Aussage als fremdenfeindlich zu bezeichnen, anstatt die Ministerin zu belehren, wie inhaltlich falsch sie mit ihrem Vergleich doch liegt. Käme derlei von einem Mann, würde es wohl heißen, er fahre halt konsequent den Kurs der Kurz-ÖVP.

Oder, anderer Vorschlag: Wenn man sich schon ausführlich damit beschäftigt, die Rhetorik von Politikerinnen so genüsslich auseinanderzunehmen, dann bitte auch die noch immer männlich kodierte Rationalitäts- und Hausverstandsrhetorik, bei der die Wahrscheinlichkeit, darin Vernunft zu finden, mindestens so gering ist wie in Wien ein "Little Italy". (Beate Hausbichler, 16.9.2020)