Die Coronavirus-Pandemie hat viele Aspekte unseres Lebens, die bislang selbstverständlich "persönlich" stattgefunden haben, in den digitalen Raum verlagert. So auch in Nigeria, wo man auch das Gerichtswesen umgerüstet hat. Während des fünf Wochen andauernden Lockdowns ging man dazu über, Verhandlungen über die Videochatsoftware Zoom abzuwickeln.

So auch am 4. Mai, als der 35-jährige Olalekan Hameed sich um 11 Uhr per Webcam aus seinem Gefängnis zuschaltete. Der Termin schloss ein seit 2018 andauerndes Verfahren ab und dauerte weniger als drei Stunden. Hameed wurde zum Tod durch Erhängen verurteilt, da er seine Chefin bestohlen und ihre Mutter ermordet haben soll. Es handelte sich um das erste Todesurteil weltweit, das in einer digitalen Gerichtssitzung beschlossen wurde. Ein Vorgang, der später für erhitzte Debatten sorgen sollte, berichtet "Rest of World".

Öffentliche Prozesse als hohes Gut

Der Prozess an sich verlief laut Schilderungen ruhig und ging im medialen Umfeld der Ausgangsbeschränkungen unter. Was später aber für Erzürnen sorgte, ist, dass ein solch ultimatives Urteil nicht in einem offenen Verfahren, sondern per Videochat gesprochen wurde. Zwar lud das Justizministerium eine Aufnahme des Prozesses hoch, doch Bürger hatten keine Möglichkeit, direkt beizuwohnen. Einzelnen Journalisten wurde die Möglichkeit zur Beobachtung gewährt.

Doch öffentliche Verhandlungen sind für viele Nigerianer ein hohes Gut. Denn das Land kehrte erst vor zwei Jahrzehnten zurück in die Demokratie. Davor bestand die Rechtsprechung oft aus Militärtribunalen unter Ausschluss der Öffentlichkeit, die häufig dazu genutzt wurden, sich Oppositioneller zu entledigen.

Für Hameeds Familie kam das Urteil zudem sehr plötzlich. Nur einen Tag vor der Verhandlung wurde seinem älteren Bruder mitgeteilt, dass das Urteil nun gefällt wird. Dieser informierte sein inhaftiertes Familienmitglied, das darüber noch gar nicht im Bilde war.

Ein Screenshot mit den Richtern und anderen Prozessteilnehmern.
Foto: TransparencIT Nigeria

Probleme im Justizsystem

Nigerias Justiz kämpft, auch wenn sie seit ihrer demokratischen Erneuerung deutlich an Vertrauen gewonnen hat, mit gröberen Problemen. Die Gefängnisse sind überfüllt, Verfahren dauern lange, viele Strukturen und Strafen stammen noch aus der kolonialen Ära. Ein Reformversuch 2018, bei dem man die Einreichung neuer Fälle weitgehend automatisieren wollte, schlug fehl. Präsident Muhammadu Buhari regte im April an, alle Häftlinge zu entlassen, die seit mehr als sechs Jahren auf ihren Prozess warten.

Die Einrichtung der Videochat-Gerichte war mit gemischten Gefühlen begrüßt worden. Allgemein hatte man angenommen, dass diese zuerst einmal an einfacheren, zivilrechtlichen Fällen erprobt würden. Dennoch nahm von dem Todesurteil vorerst kaum jemand Notiz, bis die NGO Transparencit darüber berichtete und forderte, dass künftig auch Bürger den virtuell abgehaltenen Prozessen live beiwohnen können sollten.

Verfassung sieht öffentliche Urteile vor

Hameeds Anwalt Anthony Ezemba befürwortet zwar die Digitalisierung des nigerianischen Justizsystems, betont aber, dass dabei die Menschenrechte nicht zu kurz kommen dürften. Im Hinblick auf seinen Mandaten meint er, dass wichtige Instrumente – etwa Vergleiche – übersehen worden seien. Allerdings hatten die Anhörungen in diesem Fall bereits vor dem Schlusstermin stattgefunden, der nur noch zur Urteilsfindung diente.

Ezemba verweist allerdings auch darauf, dass die nigerianische Verfassung vorsieht, dass Urteile in einer öffentlichen Verhandlung gesprochen werden müssen, hier aber sogar dem Bruder seines Mandanten die Teilnahme verweigert worden sei. Human Rights Watch bezeichnete laut BBC das Todesurteil per Zoom als "inhärent grausam und inhuman".

Umstrittene Todesstrafe

Das Urteil der Richterin entfachte auch eine Diskussion über einen anderen Aspekt: die Todesstrafe. Deren Anwendung ist in Nigeria hochumstritten. Sie sei hier das eigentliche Problem, argumentiert der Anwalt und Menschenrechtsaktivist Ayo Sogunro.

Öffentliche Teilhabe an einem Prozess könne ein Beitrag zu mehr Fairness sein, müsse es aber nicht unbedingt. Der aktuelle Fall sei aber ein Beispiel dafür, wie ein Verfahren, das bei jeder anderen Strafe wohl akzeptiert worden wäre, als ungerecht wahrgenommen wird, sobald die Todesstrafe im Spiel ist. (gpi, 17.9.2020)