Durch Corona werden viele etablierte Gesundheitsprogramme zurückgedrängt.

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Die Corona-Pandemie hat den in den vergangenen zwanzig Jahren erzielten Fortschritt in der Entwicklung der ärmsten Staaten dieser Welt zunichte gemacht. Zu diesem Ergebnis kommt der diesjährige "Goalkeepers Report" der Bill&Melinda-Gates-Stiftung, der die Errungenschaften von Entwicklungsländern unter insgesamt 18 Gesichtspunkten misst und Anfang dieser Woche veröffentlicht wurde.

Nachdem die Zahl der in bitterer Armut lebenden Menschen seit Anfang dieses Jahrtausends ständig kleiner geworden war, rutschten jetzt wieder 37 Millionen zusätzliche Erdbürger unter die extreme Armutsgrenze – das heißt, sie müssen mit täglich weniger als 1,90 Dollar auskommen. "Armutsgrenze ist ein beschönigender Begriff", heißt es in dem Bericht: "In Wahrheit bedeutet er, dass Familien ständig alles zusammenkratzen müssen, um sich am Leben zu erhalten."

Armut wird weiter steigen

Habe die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen bereits heute um sieben Prozent zugenommen, sei im kommenden Jahr mit einer weiteren Verdoppelung zu rechnen, heißt es weiter. Fast 400 Millionen der bettelarmen Menschen sind Frauen und Mädchen: Ihre Zahl werde in den kommenden Jahren noch bis auf 450 Millionen steigen und frühestens im Jahr 2030 wieder auf dem Stand von vor der Corona-Pandemie angelangt sein.

Unterdessen meldet das Welternährungsprogramm (WFP), dass sich die Zahl der Menschen mit nicht gesichertem Nahrungsmittelbedarf in diesem Jahr auf 265 Millionen fast verdoppeln wird. Bedroht davon sind vor allem mangelernährte Kinder unter fünf Jahren: Ihre Zahl werde um sieben Millionen steigen, heißt es in einer vom britischen Gesundheitsmagazin "The Lancet" durchgeführten Studie. Die Hungersnot wird in diesem Fall nicht von mangelhafter Produktion ausgelöst: Vielmehr können sich immer mehr Afrikaner und Südasiaten die Nahrungsmittel nicht mehr leisten.

Gesundheitswesen konzentriert sich auf Corona

Auch die Auswirkungen der Pandemie auf die Gesundheit der ärmsten Teile der Weltbevölkerung drohen nach Prognosen des Globalen Fonds zum Kampf gegen Aids, Tuberkulose und Malaria katastrophal zu werden. Einem ebenfalls am Montag veröffentlichten Bericht des Fonds zufolge könne sich die Zahl der Aids-, Tuberkulose- und Malaria-Toten in den nächsten Jahren verdoppeln, weil sich das Gesundheitswesen in den afrikanischen Armutsländern ganz auf den Kampf gegen das Coronavirus konzentriert.

Die Corona-Pandemie scheint den Kontinent bislang überraschend schonend behandelt zu haben: Bis heute wurden in Afrika lediglich knapp 1,4 Millionen Infizierte und 33.000 Todesfälle registriert, fast die Hälfte davon in Südafrika. Allerdings gelten die Zahlen als wenig vertrauenswürdig: Angesichts mangelnder Tests gehen Experten von wesentlich höheren Ansteckungs- und Sterberaten aus. Der südafrikanische Virologe Shabir Mahdi rechnet damit, dass am Kap der Guten Hoffnung bereits bis zu 20 Millionen Menschen mit dem Virus in Berührung kamen: Lediglich 650.000 Infizierte sind hier derzeit registriert. Erstaunt sind Experten vor allem über die geringe Zahl der dem Virus zum Opfer gefallenen Afrikaner. Das könne daran liegen, dass die Bewohner des Kontinents schon vor der Pandemie ähnlichen Erregern ausgesetzt waren, heißt es: Dadurch sei möglicherweise ihr Immunsystem gestärkt worden.

Hoffen auf den Impfstoff

Trotzdem wurde der Erdteil von den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie wie kein anderer mitgenommen. Das wird auf die Lockdowns und die Schließung der Grenzen zurückgeführt: Sie trafen die informellen Ökonomien mit ihren nur wenigen festen Arbeitsverhältnissen und schwachen staatlichen Interventionsprogrammen besonders hart. Selbst der Schwellenstaat Südafrika musste im zweiten Quartal dieses Jahres auf über die Hälfte seines Bruttosozialprodukts verzichten.

Erleichterung erhoffen sich Experten lediglich von der Entwicklung eines wirksamen Impfstoffs, der die Krise nach den Worten des Geschäftsführers der Melissa-und-Bill-Gates-Stiftung, Mark Suzman, auf zwei Jahre verkürzen könnte. Doch auch in dieser Hinsicht hat der Kontinent schlechte Karten: Sichern sich die reichen Staaten, wie befürchtet, die ersten zwei Milliarden Impfdosen, droht Millionen von Afrikanern doch noch der Viren- oder Hungerstod. (Johannes Dieterich, 15.9.2020)