Der Entfremdungsprozess von der Demokratie, der durch den Wahlausschluss im jungen Alter beginne, setze sich dann auch im Erwachsenenalter fort, meint Ilkim Erdost.

Foto: Robert Newald

Bereits seit mehreren Wochen machen Jugendarbeiter darauf aufmerksam, dass 72.000 Jugendliche zwischen 16 und 24 Jahren bei der kommenden Wien-Wahl nicht wählen dürfen. Sie zählen zu der halben Million Menschen, die in Wien wohnen, aber über kein Wahlrecht verfügen, weil sie keine österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Nun startet der Verein Wiener Jugendzentren – ein Verein der Stadt Wien – eine Kampagne unter dem Motto "Was bleibt, wenn 30 Prozent fehlen?", um auf den Ausschluss aufmerksam zu machen.

Es gehe um Menschen, die hier aufgewachsen, verwurzelt und zu Hause seien, wird betont. Durch das fehlende Wahlrecht werde ihnen die Möglichkeit zur Mitbestimmung und damit zur politischen Selbstwirksamkeit genommen. Desintegration werde so gefördert. Es ist eine Debatte, die seit Jahren geführt wird. Das Problem wird insofern von Wahl zu Wahl größer, als die Gruppe der Ausgeschlossenen stetig wächst.

Neue Kampagne

Bei der Kampagne rücken Jugendliche in den Mittelpunkt, die zwar selbst wählen können, aber den Wahlausschluss ihrer Freunde und Kollegen aus den Jugendzentren anprangern, erklärt Geschäftsführerin Ilkim Erdost: "Es handelt sich nämlich um ein Problem, das nicht nur die Betroffenen haben, sondern wir alle." Die Entfremdung von der Demokratie, die dadurch im jungen Alter beginne, setze sich dann auch im Erwachsenenalter fort.

Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) ließ kürzlich damit aufhorchen, dass das Wahlrecht von gesetzgebenden Körperschaften (das umfasst auch den Wiener Landtag) seiner Meinung nach "verbunden sein sollte mit der österreichischen Staatsbürgerschaft". In der Vergangenheit hatte sich die Wiener SPÖ für die Ausweitung des Wahlrechts auf unterschiedlichen Ebenen eingesetzt.

SPÖ will leichteren Zugang

"Uns geht es darum, dass die jungen Menschen in vollem Umfang das Recht haben mitzubestimmen", sagt Erdost zum STANDARD. Wie das Problem gelöst werde, sei nachrangig. Wichtig sei jedenfalls, dass auf politischer Ebene darüber debattiert werde. Es ist davon auszugehen, dass das auch innerparteilich passiert: Vorsitzende des Vereins der Wiener Jugendzentren ist die SPÖ-Gemeinderätin Marina Hanke.

"Wir haben in den vergangenen Jahren mehrmals auf das Demokratiedefizit aufmerksam gemacht. Ich sehe in der wachsenden Lücke zwischen Wohnbevölkerung und Wahlberechtigten ein demokratiepolitisches Problem", sagt Jürgen Czernohorszky, Integrations- und Jugendstadtrat, zum STANDARD und verweist auf das Wahlprogramm der SPÖ, wo unter anderem eine Kampagne zum Thema Einbürgerung vorgesehen ist. Geplant ist zudem, die Landesgebühren für die Einbürgerung zu senken. Der politische Ansatz laute: Man wolle ein modernen Staatsbürgerrecht, das schneller und einfacher Teilhabe ermöglicht und das nicht zwischen Arm und Reich trenne.

Zwei Reformebenen

Den immer wieder erhobene Vorwurf, man solle sich, sofern man wählen möchte, schlicht um die Staatsbürgerschaft bemühen, lässt man beim Verein Wiener Jugendzentren nicht gelten: Denn die Hürden dafür seien sehr hoch. Prinzipiell bestehen zwei Möglichkeiten, Staatsbürger zu sein oder zu werden: durch den Erwerb bei der Geburt qua Abstammung von österreichischen Staatsbürgern oder durch Einbürgerung.

Der Politikwissenschafter Jeremias Stadlmair verweist auf die Voraussetzungen für Zweiteres: etwa ein gesichertes Einkommen, Unbescholtenheit, Deutsch- und Landeskenntnisse und die Abgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft. Hinzu kommen in der Regel eine notwendige ununterbrochene Aufenthaltsdauer von zehn Jahren und hohe Gebühren, in Wien etwa 1.100 Euro. Im EU-Vergleich seien diese Voraussetzungen sehr streng. In zehn EU-Ländern erwirbt man die Staatsbürgerschaft – unter bestimmten Umständen – durch Geburt im Land, darunter Deutschland, Frankreich und Spanien. Durch die fehlenden Wähler sei auch die Legitimationsbasis repräsentativer Institutionen beeinträchtigt, meint Stadlmair. Reformperspektiven ergäben sich im Wesentlichen auf zwei Ebenen: durch die Ausweitung des Wahlrechts oder durch die Vereinfachung des Zugangs zur Staatsbürgerschaft. (Vanessa Gaigg, 16.9.2020)