40 Jahre nach seinen legendären Auftritten als Streikführer hat Lech Wałęsa ein Büro im Europäischen Zentrum Solidarność auf dem Gelände der ehemaligen Lenin-Werft in Danzig.

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Auf Revolutionen muss man sich gut vorbereiten. Diese Erkenntnis will Lech Wałęsa der, Gründer der Freiheitsbewegung Solidarność in Polen und Ex-Präsident, mit der Oppositionsbewegung in Belarus teilen. Sie agiere noch viel zu spontan. An die internationale Gemeinschaft appelliert er, sich globalen Problemen gemeinsam zu stellen. Der EU stellt er ein schlechtes Zeugnis aus.

STANDARD: Herr Wałęsa, wenn Sie die aktuellen Proteste in Belarus mit jenen in Polen vor 40 Jahren vergleichen, sehen Sie Unterschiede oder eher Ähnlichkeiten?

Wałęsa: Belarus ist zurzeit noch dort, wo wir in den 70er-Jahren waren. Damals haben wir den großen Streik in der Danziger Werft verloren, weil uns nicht klar war, was wir eigentlich wollten. Die Erfahrung lehrte uns, dass wir uns auf die Revolution sehr gut vorbereiten mussten. Wir brauchten vertrauenswürdige Fachleute an wichtigen Schaltstellen im Staat, ein realistisches Programm und Durchhaltevermögen. Die Oppositionsbewegung in Belarus agiert zurzeit sehr spontan, ohne eine schlagkräftige Struktur und ohne ein zumindest mittelfristiges Programm.

STANDARD: Denken Sie bei der Struktur an eine freie Gewerkschaft – so wie die Solidarność 1980?

Wałęsa: Nicht unbedingt. Die Situation in Belarus ist eine andere als bei uns damals. Dort wurden die Wahlen so dreist gefälscht, dass "die Straße" protestiert und Freiheit und Demokratie fordert. Bei uns fing alles mit Streiks gegen die schlechten Arbeitsbedingungen an.

STANDARD: Hat Belarus überhaupt eine Chance, sich aus den Armen Russlands zu befreien?

Wałęsa: Ich bin ein Praktiker, Politiker und Revolutionär, kein Theoretiker. Es ist doch so: Russland wird sich irgendwann mit dem Rest Europas arrangieren müssen. Die Zeit der Nationalstaaterei und der Kriege ist vorbei. Wir stehen heute vor ganz anderen Herausforderungen als noch vor einem Jahrhundert. Die globalen Probleme löst kein Staat mehr allein.

STANDARD: Die Ukraine, die ihren Freiheitskampf mehr oder weniger in der gleichen Zeit begann wie Polen, ist heute weder in der Europäischen Union noch in der Nato. Hat sie ihre Chance verpasst?

Wałęsa: Als ich Präsident Polens war, verfolgte ich die Konzeption eines gemeinsamen Beitritts zu Nato und EU – also erst Polen und die anderen mitteleuropäischen Staaten, dann die baltischen Republiken und schließlich die Ukraine und auch Belarus. Doch dann hatte ich keine zweite Amtszeit mehr. Damals zerfiel die Sowjetunion. Es hätte also klappen können. Ich hatte bereits alles in die Wege geleitet, ohne dies aber an die große Glocke zu hängen. Die Ukraine hat nicht ihre historische Chance verpasst, sondern geht einen anderen Weg. Wenn die EU der Ukraine und Belarus Strom, Gas und Öl liefern könnte, wären die beiden Länder weniger abhängig von Russland und hätten einen größeren Handlungsspielraum. Aber dazu ist die EU derzeit nicht in der Lage.

STANDARD: Haben Sie einen Rat für die Opposition in Belarus?

Wałęsa: Ich werde mich hüten, einen konkreten Rat zu geben. Man muss vor Ort sein, die Situation mit Herz und Hirn erfassen, mal vorpreschen, mal zurückweichen und immer im Dialog mit der anderen Seite bleiben. Aber etwas gegen Russland zu unternehmen, empfiehlt sich zurzeit wohl nicht. Das würde Putin nicht zulassen. Kleinere politische Projekte hingegen könnte die Opposition problemlos auf den Weg bringen und dabei wertvolle Erfahrungen sammeln.

STANDARD: Mit oder ohne EU?

Wałęsa: Die EU ist heute sehr schwach. Es gibt zu viele antagonistische Kräfte innerhalb der EU. Es wäre gut, wenn die Deutschen, Franzosen und Italiener entweder die EU von innen reformierten, oder aber – nachdem sie zuvor von Großbritannien, Polen, Ungarn und Konsorten zerstört wurde – sie von neuem gründeten. Wie zuvor sollte jeder beitreten können, also auch diejenigen Staaten, die vorher unbedingt raus wollten. Allerdings müssten sie einen ganz klaren Rechte- und Pflichtenkatalog unterschreiben. Die Farce rund um die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn ist doch einfach nur peinlich. Die Deutschen sollten endlich zu ihrer Verantwortung stehen und aus dem politischen Zwerg EU einen Riesen machen. In ihrer jetzigen Verfassung kann sie weder Belarus noch der Ukraine helfen.

STANDARD: Wie sieht Ihre Bilanz aus – 40 Jahre nach der Solidarność-Registrierung? Worüber freuen Sie sich bis heute?

Wałęsa: In der Solidarność-Revolution ging es nicht um mich, sondern um die Freiheit und Souveränität Polens, auch um die Wiedervereinigung Deutschlands. Das ist gelungen. Und das freut mich sehr. (Gabriele Lesser aus Danzig, 17.9.2020)