Das Thema Ernährung ist in den letzten Jahren für viele Menschen zu einem hochemotionalen Thema geworden. Wer alles richtig machen will, verzichtet nicht nur auf Fleisch, sondern achtet auch bei Obst und Gemüse auf den ökologischen Fußabdruck – und hat am Ende oft trotzdem ein schlechtes Gewissen. Die deutsche Ernährungspsychologin Nanette Ströbele-Benschop erklärt, wie man damit umgehen soll.

STANDARD: Wie hat sich die Corona-Pandemie auf unsere Ernährung ausgewirkt?

Ströbele-Benschop: Der Trend zum selbst Kochen war stark bemerkbar, weil die Kantinen und Restaurants geschlossen waren. Die einen hatten plötzlich viel Zeit, sich im Internet Rezepte rauszusuchen, die anderen mussten zu Hause arbeiten und nebenbei auch noch ihre Kinder betreuen – und hatten diese Zeit nicht. Das hängt alles auch davon ab, wie die persönliche Situation vor dem Lockdown war. Beim Einkaufen war interessant, dass die Leute plötzlich viel mehr auf haltbare und regionale Produkte geachtet haben.

Fleisch ist schlecht für die Umwelt, sogar die Avocado ein Klimasünder – für viele ist Ernährung mittlerweile mit viel schlechtem Gewissem verbunden.
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STANDARD: Kann das eine nachhaltige Veränderung sein?

Ströbele-Benschop: Da bin ich skeptisch. Eine nachhaltige Verhaltensänderung braucht mindestens drei Monate, eher sechs, in vielen Fällen noch viel länger. Bei Patienten mit Adipositas geht man mittlerweile zum Beispiel sogar von einer Übergangszeit von mindestens einem Jahr aus – und selbst dann nehmen viele am Ende doch wieder zu. Eine Ernährungsumstellung ist wahnsinnig schwierig, wenn sie darüber hinausgehen soll, von Vollfettmilch zu Halbfettmilch zu wechseln.

STANDARD: Welche Rolle spielt bei der Ernährung die eigene Kindheit?

Ströbele-Benschop: Die persönliche Geschichte spielt – neben der Genetik und der Physiologie – eine riesige Rolle. Wenn es zu Hause immer Cola gab, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass es das Cola auch im Erwachsenenalter gibt – und dass wiederum auch die eigenen Kinder Cola trinken. Was Mama und Papa – aber auch andere Menschen, etwa die Kinder im Kindergarten und im Freundeskreis – vorleben, prägt ein Leben lang.

STANDARD: Im Homeoffice haben viele Menschen zugenommen, weil die Küche nie weit war. Warum essen wir, wenn wir nicht einmal hungrig sind?

Was ist klimafreundlicher? Der regionale Apfel aus dem Lagerhaus oder ein saisonaler aus Australien? "Wenn man diese Abwägung mit allen Lebensmitteln macht, wird man wahnsinnig und ist überfordert", sagt Nanette Ströbele-Benschop, Professorin für angewandte Ernährungspsychologie an der Universität Hohenheim.
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Ströbele-Benschop: Wer isst denn nur, wenn der Bauch grummelt? Ein Beispiel: Es ist zwölf Uhr mittags, und die Kollegen gehen in die Mensa. Da geht man mit, auch wenn man noch keinen Hunger hat. Die Umwelt steuert einen. Ich merke das auch in meinem eigenen Leben: Seit ich Kinder habe, esse ich anders. Ich möchte meinen Kindern zum Beispiel zeigen, dass ein gemeinsames Frühstück wichtig ist und frühstücke mit ihnen, auch wenn ich um die Uhrzeit eigentlich noch überhaupt nicht hungrig bin. Die Außensteuerung ist ein wahnsinnig wichtiger Faktor bei unserer Ernährung. Wir essen ganz häufig, weil andere Menschen auch gerade essen. Aber auch Emotionen verleiten uns dazu, zu essen: Man hat das Verlangen nach einem Stück Schokolade, weil man sich gerade gestritten hat. Oder man belohnt sich für eine Leistung mit einem Eis.

STANDARD: Aber ist das nicht problematisch?

Ströbele-Benschop: Wenn man jeden Tag gegen seine Physiologie geht und drei Kugeln Eis braucht, um gut drauf zu sein, ist das natürlich nicht gesund. Aber ist es so schlimm, wenn man an einem Tag abends nicht eine Suppe isst, sondern ein Drei-Gänge-Menü? Ich finde nicht. In der frühkindlichen Entwicklung spielt nur der Hunger eine Rolle. Bei Essen als Emotionsregulation geht man davon aus, dass das hauptsächlich erlernt ist. Und es gibt eben auch die Einflüsse von außen. Ob es der große Löffel oder die große Schüssel ist, die uns dazu bringen, mehr zu essen – oder das Menü im Restaurant. Im Alter nehmen diese Einflüsse von außen wieder ab. Altersstarrsinn zeigt sich häufig auch beim Essen.

STANDARD: Das richtige Essen führt im Familien- und Freundeskreis bei vielen zu hitzigen Diskussionen. Wann ist Essen eigentlich so kompliziert geworden?

Ströbele-Benschop: Einige Forscher argumentieren, dass Ernährung zu einer Art Religion geworden ist. Früher sind wir in die Kirche gegangen und haben uns an Regeln gehalten. Regeln finden wir jetzt nicht mehr so toll, das merkt man ja auch an der Diskussion zu den Masken in der Corona-Pandemie. Bei der eigenen Ernährung kann einem aber niemand reinreden, die kann man so gestalten, wie man möchte. Individualismus scheint einen sehr wichtigen Stellenwert in unserer Gesellschaft eingenommen zu haben. Wir beschäftigen uns heute viel mehr mit uns selbst und unserer Ernährung als früher.

STANDARD: In der Theorie wissen wir alle, wie's geht. Gleichzeitig werden Kartoffelchips und Billigfleisch gekauft.

Ströbele-Benschop: Ja, Fleisch ist besonders spannend: Wir haben mal eine Studie gemacht, für die wir Probanden Filme über die Fleischproduktion gezeigt haben. Da ging es zum Beispiel darum, wie umweltschädlich Fleischkonsum ist. Direkt im Anschluss daran hat man schon eine Veränderung im Ernährungsverhalten der Probanden gesehen. Ein Jahr später war aber alles wieder beim Alten. Man sieht eine Dokumentation oder hört etwas in den Medien, und denkt sich: Jetzt will ich aber irgendwie etwas ändern. Langfristig verliert sich dann die Intention irgendwie wieder.

STANDARD: Aber warum?

Ströbele-Benschop: Die Gründe sind vielfältig. Man ist unter Zeitdruck, fährt kurz zum Diskonter, und dort gibt es kein Biofleisch, also greift man zum Billigfleisch. Interessanterweise zeigen Umfragen immer wieder, dass eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung bereit wäre, ein paar Euro mehr für das Fleisch zu zahlen, wenn es den Tieren dafür besser geht. Nur merkt man bei diesen Umfragen das Phänomen der sozialen Erwünschtheit. Man antwortet also so, wie es von einem erwartet wird. Aber beim Steak oder Rinderfilet, wo die Biovariante dann tatsächlich doppelt so viel kostet, denken viele: Nein, ich greif dieses eine Mal zur Diskontvariante.

STANDARD: Für viele ist Ernährung ja mittlerweile auch mit viel schlechtem Gewissen verbunden. Fleisch ist schlecht für die Umwelt, sogar die Avocado ein Klimasünder.

Ströbele-Benschop: Das schlechte Gewissen ist für den Gebildeten und Interessierten. Wir diskutieren häufiger an der Uni am Beispiel Apfel: Derzeit kann man regionale Äpfel kaufen, prima. Die kommen dann aber über den Winter ins Kühlhaus. Für die Lagerung ist wahnsinnig viel Energie nötig. Dann ist am Ende also vielleicht der saisonale, in Australien gepflückte Apfel, der mit dem Schiff kommt, klimafreundlicher als der regionale. Wenn man diese Abwägung mit allen Lebensmitteln macht, wird man wahnsinnig und ist überfordert. Es kann eine kognitive Dissonanz entstehen, man verdrängt das oder findet Gründe, die das Verhalten rechtfertigen. Wir sind ja wahre Verdrängungskünstler! Irgendwann ist einfach eine Grenze für den Konsumenten erreicht. Die Mehrheit der Verbraucher schaut sich die Produktlabels nicht einmal mehr an. Wie denn auch, dafür fehlt den meisten die Zeit.

STANDARD: Was also tun?

Ströbele-Benschop: Die Frage ist schon, wann das alles so aus dem Ruder gelaufen ist. Das kann auch nicht nur die Verantwortung des Verbrauchers sein, das ist ja gar nicht mehr bewältigbar. Da braucht es Maßnahmen von Wirtschaft und Politik. Was ich den Konsumentinnen und Konsumenten rate: Haben Sie Mut zum gesunden Mittelmaß. Irgendwie ist das heute nicht mehr okay, und ich weiß nicht, warum. Man ernährt sich entweder supergesund – oder nach dem Motto "auch egal". Man ist supersportlich – oder auch: egal. Warum können wir denn nicht alle ein bisschen Sport betreiben und uns ein bisschen verantwortungsbewusst und gesund ernähren? Wo ist denn eigentlich das Problem der Mitte? (Franziska Zoidl, 17.10.2020)