Wie mit dem Seziermesser legt die Regie von Christof Loy die Regungen der Figuren frei und sorgt für stimmige Bilder.

Foto: Monika Rittershaus

Unwahrscheinliche Handlungen im abgehobenen Milieu, weit entfernt von der Lebensrealität der Zuschauer. Ausuferndes Breittreten schablonenhafter Emotionen, Künstlichkeit und Unglaubhaftigkeit: Einige der ewigen Vorwürfe gegen die Oper haben so etwas wie einen wahren Kern. Was nicht heißt, dass all dies in einer gelingenden Aufführung nicht jedes Mal aufs Neue auf zauberhafte Weise überwunden werden könnte.

An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hatte eine Gruppe junger italienischer Komponisten die Gattungsklischees und -normen gründlich satt und zielte auf etwas radikal Neues.

Im Verismo sollte das echte Leben gewöhnlicher Menschen, sollten ihre unverstellten Gefühle mit authentischer Intensität unmittelbar auf die Bühne kommen wie in der modernen Theaterliteratur der Zeit. Vom umfangreichen Schaffen Ruggero Leoncavallos ist heute nur noch Pagliacci (Der Bejazzo) im allgemeinen Bewusstsein sowie in den Spielplänen präsent. Hand aufs Herz, wer hat vor der aktuellen Produktion im Theater an der Wien schon etwas von seiner Commedia lirica Zazà gehört?

Pausenlose Aufführung

Die Gattungsbezeichnung lässt ebenso wenig wie bei Bizets Opéra comique Carmen auf den Inhalt des 1900 uraufgeführten Werks schließen, das Leoncavallo 1919 einschneidend umgearbeitet hat. In Wien wird die zweite, wesentlich kürzere Fassung unter Verwendung von Teilen der ersten in 120 pausenlosen Minuten gezeigt.

Auf den ersten Blick fühlt man sich in der Inszenierung von Christof Loy an Pagliacci erinnert, doch die Clowns und Artisten spielen hier nur eine Nebenrolle.

Im Zentrum steht die Provinzvarietékünstlerin Zazà, und bald steht sie zwischen zwei Männern, aber ebenso zwischen dem bisher gewohnten Leben und der Hoffnung auf das Glück einer sicheren bürgerlichen Existenz durch Heirat und Liebe. Der eine ist Cascart, ihr Bühnenpartner und ehemaliger Geliebter, den sie so wie ihre trunksüchtige Mutter (als einzige Rolle komödiantisch: Enkelejda Shkosa) über Wasser hält. Der andere ist der Geschäfts- und Lebemann Milio, in den sie sich Hals über Kopf verliebt, nicht ahnend, dass er in der Hauptstadt Frau und Kind hat.

Sie gibt ihn schließlich frei und bleibt in diesem Stück – ungewöhnlich genug für das Genre – todunglücklich am Leben.

Dem Theater an der Wien ist mit dieser Produktion in diesen turbulenten Zeiten ein großer Wurf gelungen. Die sprunghaften Emotionen einer feurigen, dann wieder matten und zerbrechlichen Musik werden vom ORF-Radio-Symphonieorchester Wien unter Stefan Soltész souverän mitgestaltet, wie mit dem Seziermesser legt die Regie von Christof Loy die psychologischen Regungen der Figuren frei und sorgt zugleich für stimmige Bilder.

Innige Zuneigung

Um alle Mitwirkenden angemessen zu loben, brauchte es eine ganze Zeitungsseite. Sie alle scheinen mit jeder Faser in ihrer Rolle, ebenso wie das zentrale Liebesdreieck.

Zazà (Svetlana Aksenova) durchleidet das ganze Spektrum von inniger Zuneigung über rasende Eifersucht und stumme Verzweiflung, Milio (Nikolai Schukoff) zeigt sich als Draufgänger und als niedergeschlagen Trauernder, Cascart (Christopher Maltman) führt energisch und berührend seinen bereits verlorenen Kampf um die Geliebte.

Ansonsten sei angemerkt: Die Sicherheitsvorkehrungen im Theater an der Wien sind strenger als der Gesetzestext, die Platzanweiser nervöser als der Gesundheitsminister. Dass die Aufforderung an das Publikum, abweichend von den seit dem Sommer gewohnten Regeln, die gesamte Vorstellung vermummt zu verfolgen, wie eine Vorschrift daherkommt, überrumpelt. Es wäre schön zu wissen, worauf man sich einlässt, bevor man im Theater Platz nimmt – um denen zuzusehen, die erst zu spät erkennen, worauf sie sich eingelassen haben. (Daniel Ender, 17.9.2020)