Auffällig viele Frauen tragen die Proteste gegen das System rund um den belarussischen Staatschef Alexander Lukaschenko. Öffentliche Opposition von Männern, die ihn umgeben, ist hingegen noch selten.

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Der ehemalige belarussische Spitzendiplomat, Kulturminister und Theaterdirektor Pawel Latuschko gilt als prominentester Überläufer ins Lager der Demonstranten. Nachdem er in das Präsidium des oppositionellen Koordinationsrats gewählt worden war, musste er Belarus verlassen, zuvor war er vom KGB befragt worden. Heute ist er im polnischen Exil. Vorige Woche besuchte er Wien und traf Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP).

STANDARD: Nachdem Sie sich auf die Seite der Proteste geschlagen hatten, wurden Sie als Theaterdirektor gefeuert, inzwischen mussten Sie aus dem Land fliehen. Gibt es Momente, in denen Sie Ihre Entscheidung bereuen?

Latuschko: Nein. Jeder Mensch stößt in seinem Leben an Grenzen, die er nicht überschreiten darf. Für mich war es nicht möglich, nach dieser Gewalt, diesem Töten, dieser Brutalität, mit der die Sicherheitsorgane gegen eigene Bürger vorgehen, weiterzumachen wie bisher. Abgesehen von den Wahlfälschungen. Es hat zuvor auch schon immer Fälschungen gegeben, aber dieses Ausmaß hat alle Grenzen gesprengt.

STANDARD: Dennoch sind Sie einer der wenigen aus dem Staatsapparat, die sich den Protesten angeschlossen haben.

Latuschko: Unser System wird seit 26 Jahren nur durch eines zusammengehalten: die Angst. Nehmen Sie mein Beispiel: Gegen mich wurden zwei Strafverfahren eröffnet, außerdem habe ich meinen Job verloren. Ich kann aber nicht verstehen, warum nicht mehr Diplomaten im Ausland ihre Stimme erheben. Wie können sie nur diese Gewalt rechtfertigen? Die Opfer? Die Granaten, die Gummigeschoße? Es wäre wichtig, dass mehr Diplomaten die Gewalt verurteilen.

STANDARD: Wie zentriert ist die Macht um Alexander Lukaschenko?

Latuschko: 80 bis 85 Prozent im Staatsapparat sind gegen ihn. Sie sind aber nicht bereit, sich zu outen. Die Frage ist, was der letzte Impuls sein könnte, damit das passiert. Einige Beispiele haben wir schon in der Staatsanwaltschaft, der Polizei und bei Ministerien gesehen. Aber es sind noch zu wenige. Auf der Ebene der Vizeminister und der Leiter der Untersektionen gibt es viele Lukaschenko-Kritiker. Aber sie machen das nicht öffentlich. Noch nicht.

STANDARD: Aber es scheint nicht, als würde das System heute oder morgen zusammenbrechen.

Latuschko: Es ist nicht möglich, das Land ausschließlich mit Gewalt zu regieren. Die meisten Belarussen wollen nicht in die alten Zeiten zurück. Zudem stehen wir vor einer Wirtschaftskrise, die Proteste werden sich noch ausweiten. Wie werden die Mitarbeiter im Staatsapparat, die jetzt nicht zu ihrer Meinung stehen, später den Menschen in die Augen sehen können?

STANDARD: Sie haben sich vorige Woche mit dem österreichischen Außenminister Alexander Schallenberg getroffen. Österreich gilt als Lukaschenko-Freund innerhalb der EU, im Vorjahr hat es als erstes EU-Land Lukaschenko empfangen, nachdem 2016 die Sanktionen aufgehoben worden waren. Wie bewerten Sie das?

Latuschko: Ich kann nur vom Zugang der belarussischen Außenpolitik sprechen, wovon ich lange ein Teil war. Wir haben geglaubt, dass Lukaschenkos Kontakte auf EU-Ebene auch für Belarus eine Entwicklung anstoßen und dass es dadurch zu Veränderungen und Reformen im Land kommen wird. Wir haben uns leider getäuscht. Damals hatte diese Position der österreichischen Außenpolitik natürlich Berechtigung. Heute haben alle den Glauben an diese Position verloren.

STANDARD: Der Dialog Österreichs mit Lukaschenko war also ein Fehler?

Latuschko: Ja, aber das gilt ebenso für die EU insgesamt. Der Fehler liegt auch bei der belarussischen Diplomatie, die davon ausgegangen ist, dass es über den Dialog eine Evolution, einen Wandel geben kann. Das Außenministerium in Belarus war inoffiziell immer ein liberales, oppositionelles Ministerium, das sich für evolutionäre Veränderungen eingesetzt hat. Wir haben Lukaschenko überzeugt, und auch unsere Partner in der EU. Heute herrscht Frustration über diese Strategie.

STANDARD: In der Kritik steht derzeit auch A1 Belarus, eine 100-prozentige Tochter der Telekom Austria, die während der Proteste auf Geheiß der Behörden das mobile Internet abschaltet.

Latuschko: Die Unternehmen befinden sich in einer schwierigen Lage. Natürlich treffen die Mobilfunkbetreiber nicht selbst die Entscheidung, das Internet abzuschalten. Aber jedes Unternehmen sollte für sich selbst abwägen, ob es sinnvoll ist, weiterhin unter diesen Bedingungen zu arbeiten, und ob sie dabei die Ansprüche ihrer Klienten auf einen störungsfreien Betrieb überhaupt garantieren können. Wir finden, im 21. Jahrhundert ist es nicht zulässig, das Internet abzuschalten.

STANDARD: Was soll die EU tun?

Latuschko: Die Proteste sind eine innerbelarussische Angelegenheit. Dennoch ist es für uns wichtig, gute Beziehungen sowohl zur EU als auch zu Russland zu haben. Wir wollen uns nicht mit der EU gegen Russland verbünden und nicht mit Russland gegen die EU. Wir wünschen uns von der EU eine klare Verurteilung der Gewalt und der Wahlfälschung und Hilfe bei internationalen Ermittlungen. Wir brauchen einen internationalen rechtlichen Mechanismus, um die Straftaten in Belarus aufzuklären und die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen. Es kann nicht sein, dass solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit im 21. Jahrhundert ungesühnt bleiben. (Simone Brunner, 18.9.2020)