Warum es dringend Lehrstühle für Ideengeschichte und Wirtschaftsethik braucht: Diplomvolkswirt und Buchautor Sebastian Thieme kritisiert in seinem Gastkommentar die Ökonomik und fordert Änderungen ein.

Im Juli 2020 veröffentlichten drei Ökonomen ein Arbeitspapier über einen Feldversuch in einem Elendsviertel in Kenia. Untersucht werden sollte, wie es sich auswirkt, wenn die dortigen Wasseranbieter bei säumigen Zahlungen die Wasserzufuhr sperren. Nun handelte es sich offenkundig um Experimente an Armen, die mit dem von der UN anerkannten Menschenrecht auf Wasser kollidieren konnten. Kein Wunder also, dass dieses Papier auf Kritik stieß. Eine solche Ökonomik wirkt nicht sehr sympathisch. Und genau dieser Eindruck verfestigt sich bereits mit einem Blick auf ökonomische Lehrbücher.

Was lernen Studierende im Bereich Ökonomik? Und handelt es sich tatsächlich um eine "wertfreie" Wissenschaft?
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So lernen Studierende im Bereich Ökonomik, dass überall dort, wo Informationsvorteile möglich sind, diese zulasten Dritter genutzt werden: Bewerberinnen und Bewerber täuschen deshalb über ihre wahren Qualifikationen hinweg, und Arbeitskräfte halten Leistung zurück oder neigen zu Diebstählen im Betrieb. Studierende lernen auch ein neoklassisches Arbeitsmarktmodell kennen, in dem es nur freiwillige Erwerbslosigkeit gibt, was mit dem Konsum von Freizeit assoziiert ist. Die "trägen" Arbeitskräfte maximieren dann wahlweise den "Nutzen des Faulseins" oder minimieren das Leid der Arbeit.

Hinzu kommen Reallohnsenkungen als probates Mittel der Neoklassik gegen Arbeitslosigkeit. Dabei wird geflissentlich übergangen, dass die Selbsterhaltung ein ganz zentrales Wirtschaftsmotiv vieler Menschen ist. Sozialstaatliche Aktivitäten gelten dagegen als schlecht, weil der Staat damit Lohnansprüche oberhalb "des Marktlohns" forciert und so vom Arbeiten abhält. Das führt häufig dazu, den absoluten Anspruch auf Menschenwürde und die daraus abgeleitete sozialstaatliche Existenzsicherung den Effekten auf dem Arbeitsmarkt unterzuordnen. So verwundert es nicht, wenn Ökonomen wie Marcel Fratzscher in den Sozialtransfers eine Großzügigkeit sehen statt einen durch Grundrechte gedeckten Anspruch und auf einen Lohnabstand pochen, der durch niedrige Sozialtransfers erzeugt wird.

Streit über Sanktionen

Es sind aber nicht nur kleingerechnete Sozialtransfers, die davon zeugen, die Existenznot als legitimes Instrument der Arbeitsmarktpolitik zu verstehen. Dazu gehören auch existenzbedrohliche Sanktionen, wie sie 2019 mit Bezug auf das deutsche Hartz-IV-System diskutiert wurden. Der ehemalige "Wirtschaftsweise" Peter Bofinger wollte diese nicht abschaffen, weil Sozialtransfers ohne solche Sanktionen einem bedingungslosen Grundeinkommen gleichkämen, bei dem die Arbeitsanreize fehlen. Auch der medienpräsente Ex-Direktor des Ifo-Instituts München, Hans-Werner Sinn, befürwortete diese Sanktionen und mutmaßte, dass wer ein Jobangebot ablehnt, die Sozialtransfers nicht brauchte und wohl anderweitig beschäftigt wäre.

In solchen Äußerungen kommen Vorbehalte gegenüber Menschen aus "niederen" sozialen Klassen zum Ausdruck, fachlich als "Klassismus" bezeichnet. Zum Beispiel wecken die eben erwähnten Äußerungen von Sinn die Vorbehalte, dass sich Arme Sozialleistungen erschleichen und mit Schwarzarbeit doppelt kassieren. Netter verpackt, aber im Kern ähnlich negativ ist auch die Befürwortung eines degressiven Arbeitslosengeldes durch die Agenda Austria: Das Argument, Langzeitarbeitslose würden sich "zu lange mit der Jobsuche Zeit lassen", beschreibt letztlich das klassistische Vorurteil, Erwerbslose würden lethargisch in der sozialen Hängematte liegen. Insofern institutionalisiert ein so argumentiertes degressives Arbeitslosengeld dieses Vorurteil.

Ein weiteres Beispiel liefert der österreichische Ökonom Gabriel Felbermayr: Für ihn hat eine höhere Besteuerung von "Topverdienern" nichts mit Leistungsgerechtigkeit zu tun, weil damit die "Leistungsträger" belastet würden. Das ist erstaunlich blind gegenüber dem finanzwissenschaftlichen Leistungsfähigkeitsprinzip, aber darüber hinaus auch eine unglaubliche Herabwürdigung der in aller Regel schlecht bezahlten systemrelevantenJobs, von denen "wir" gerade in Zeiten von Corona abhängen.

Wenig Forschung

Die Liste solcher misanthropischen Momente ließe sich beliebig fortsetzen. Das gilt auch angesichts des eigenartigen Verhältnisses zwischen Marktfundamentalismus (Neoliberalismus) und rechten Positionen, wie es seit der Gründung der Alternative für Deutschland (AfD) zunehmend diskutiert wird.

Wer nach den Ursachen dafür fragt, ist aber mit einer sehr komplexen Gemengelage konfrontiert. Es gibt zwar einzelne Beiträge, die sich mit Rassismus und Eugenik unter Ökonomen beschäftigen. Und Kommentare wie "Economics is a disgrace" von Claudia Sahm, einer US-Makroökonomin, deuten eine zunehmende Sensibilität für diese Thematik an. Aber die Forschung bezüglich der hier umrissenen ökonomischen Misanthropie ist praktisch kaum existent und steht erst am Anfang.

Ein wesentliches Hindernis dafür besteht in dem dominanten Selbstbild der Ökonomik als "wertfreie" Wissenschaft. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Annahme, sondern diese fungiert als Immunisierung gegen Kritik: Wer meint, "wertfrei" zu arbeiten, hält sich auch nicht anfällig für Ideologien oder Rassismus. Deshalb müssen Sahms Schilderungen oder der Hinweis auf die ökonomische Misanthropie geradewegs provozieren.

Was könnte dagegen helfen? Zum Beispiel Lehrstühle für Ideengeschichte und Wirtschaftsethik, die die Grundlagen schaffen, um sich in der Ökonomik zum Beispiel mit "Wertfreiheit", Performativität und ökonomischer Misanthropie sinn- und gehaltvoll beschäftigen zu können. Das ist übrigens eine Minimalforderung von Vertreterinnen und Vertretern der Pluralen Ökonomik. Wäre sie erfüllt, ließe sich etwas Hoffnung schöpfen, dass die so bewirkte Sensibilität auch dafür sorgt, "der" Ökonomik die misanthropischen Elemente auszutreiben.

Sebastian Thieme ist Diplomvolkswirt und Buchautor (u. a. "Der Ökonom als Menschenfeind?"). Forschungsgebiete sind u. a. Selbsterhaltung, Sozialökonomik und Wirtschaftsethik. (Sebastian Thieme, 18.9.2020)