Im Gastkommentar schlägt der sportbegeisterte ehemalige Bankdirektor Ernst Löschner vor, dass es auch im Tennissport Ex-aequo-Siege geben sollte.

Dominic Thiem und Alexander Zverev nach dem Matchpoint.
Foto: EPA / Jason Szenes

Wer in der Nacht vom 13. auf den 14. September das Herren-Tennis-Finale der US Open live miterlebt hat, war nicht nur Zeuge eines an Dramatik kaum zu überbietenden Schauspiels. Es hatte eine menschliche Dimension, die die Euphorie über den Sieg von Dominic Thiem noch überstrahlt. Als der letzte Punkt im fünften Satz ihm mit einem 8:6-Tiebreak den Sieg bescherte und er danach auf seinen Freund und Kontrahenten Alexander Zverev zuging, da umarmte ihn dieser und streichelte ihm über seinen Kopf, so als wollte er ihn trösten – und nicht umgekehrt. In der Zeremonie nach dem Match streuten sich beide Spieler gegenseitig Rosen. Thiem sagte (zu Recht): "Dieses Spiel hätte sich zwei Sieger verdient." Später fügte er hinzu: "Tennis ist ein grausamer Sport."

Was wäre gewesen, wenn beide Spieler beim Game-Stand von 6:6 im fünften Satz gesagt hätten: "Wir haben beide unser Bestes gegeben, fünf Sätze lang. Es hat nicht sein wollen, dass einer von uns vorzeitig gewinnt. Wir wollen nun nicht mehr weiterspielen! Wir sind seit unserer Jugend enge Freunde. Keiner von uns will auf Kosten des anderen gewinnen und diesem die Schmach der Niederlage antun! Warum können wir nicht ex aequo US-Open-Sieger sein und uns das Preisgeld teilen? Jeder von uns beiden wäre damit mehr als happy."

Schmaler Grat

Zugegeben: Die Schmach einer Niederlage wäre für Thiem ungleich größer gewesen. Er wäre wieder als "big loser" nach schon drei verlorenen Grand-Slam-Finali vom Platz gegangen und hätte sich psychologisch vielleicht nie mehr davon "erholt". So schmal ist der Grat zwischen Sieg und Niederlage, denn nun prophezeit Zverev, dass Thiem noch "viele" Grand-Slam-Titel holen wird.

Ja, aber warum muss es zwingend so sein, dass – wie in einem Krieg oder einem Gladiatorenkampf – weitergekämpft werden muss, bis es einen Sieger und einen Besiegten gibt? Muss das wirklich so sein? Immerhin gibt es in vielen Sportarten den Ex-aequo-Sieg. Man denke nur an den alpinen Skisport. Kein einziges Mal wäre mir bewusst gewesen, dass sich zwei Österreicherinnen oder Österreicher über einen Ex-aequo-Sieg nicht gefreut hätten.

Gesellschaftlich akzeptiert

Die Chronik weiß, dass es (mit Ausnahme der alpinen Kombination) in allen Weltcup-Disziplinen Ex-aequo-Siege gegeben hat, bei den Herren elfmal, bei den Damen sogar 15-mal. Zweimal gab es bei den Damen sogar einen dreifachen Ex-aequo-Sieg, zuerst beim RTL in Sölden 2002 durch Tina Maze (SLO), Andrine Flammen (NOR) und Nicole Hosp (AUT). Auch 2006 gab es beim Super-G in Hafjell einen Dreifachsieg durch Lindsey Vonn (USA), Nadia Styger (SUI) und Michaela Dorfmeister (AUT). (Die Vierte in diesem Rennen war übrigens nur eine Hundertstelsekunde zurück.)

Zwei Läuferinnen, Mikhaela Shiffrin und Petra Vlhová, schafften sogar zweimal Ex-aequo-Siege, davon einen gemeinsam (RTL Maribor 2019). Die anderen waren 2014, als Shiffrin mit Anna Fenninger (AUT) in Sölden und zuletzt im Jänner 2020, als Petra Vlhová in Sestriere mit Federica Brignone (ITA) ebenfalls einen RTL gewann (Shiffrin war nur eine Hundertstelsekunde zurück). Sogar bei Olympia (Sotschi 2014) gab es in der Abfahrt die Ex-aequo-Olympiasiegerinnen Tina Maze (SLO) und Dominique Gisin (SUI).

Von den Ex-aequo-Weltcupsiegen bei den Herren seien ebenfalls einige hervorgehoben: der Super-G in Kvitfell (2012) mit Klaus Kröll (AUT) und Beat Feuz (SUI); die Abfahrt in Bormio (2012) mit Hannes Reichelt (AUT) und Dominik Paris (ITA), wobei Aksel Lund Svindal (NOR) nur eine Hundertstelsekunde zurücklag; die Abfahrt, ebenfalls in Kvitfell, (2014) mit Kjetil Jansrud und Georg Streitberger (AUT) und die Abfahrt in Are mit den beiden Österreichern Matthias Mayer und Vincent Kriechmayr.

Auch beim Skispringen gab es österreichische Ex-aequo-Siege im Weltcup: Daniela Iraschko gewann in Oslo 2004 (mit Anette Sagen, NOR) und als Iraschko-Stolz 2015 in Ljubno (mit Sara Takanashi, JAP). Gregor Schlierenzauer gewann zweimal, 2011 beim Skifliegen in Vikersund (mit Johan Evensen, NOR) und 2013 auf der Großschanze in Oslo (mit Piotr Żyła, POL). 2014 trugen sich in Kuusamo zwei weitere große Namen gemeinsam in die Siegerliste ein: Simon Amman (SUI) und Noriaki Kasai (JAP).

Ob im Langlauf, im Rodeln und Bobfahren, im Eisschnelllauf, beim Schwimmen oder Kunstturnen – in unzähligen weiteren Sportarten ist der Ex-aequo-Sieg gesellschaftlich akzeptiert. In der Leichtathletik hingegen sind die Regeln so gestrickt, dass Ex-aequo-Siege kaum möglich sind (in den Annalen befand sich nur ein Olympiasieg 1908 im Stabhochsprung der Herren). Beim Golf und beim Pferdespringen wird ein Sieger durch ein "Stechen" (nomen est omen) erzwungen.

Andere als "Trittstufen"

Im "Treffpunkt Philosophie" bestand für Jorge A. Livagra 2016 "die geheimnisvolle Kunst des Siegens" darin, unsere Ziele zu erreichen, ohne andere als "Trittstufen" zu benutzen, so wie "die Kunst des Glücklichseins darin besteht, Ziele zu erreichen, die nicht auf Kosten oder dem Unglück anderer begründet sind".

Wie steht es nun mit diesen "Trittstufen" im Sport, bei dem der "Sieg den abschließenden Erfolg in einem Wettkampf darstellt" (Wikipedia)? Der Wettkampf begründet die Faszination des Sports, für viele auch im Aufbau des eigenen Egos in der Identifikation mit dem Sieger oder der Siegerin. Olympioniken müssen zu Recht Fairness geloben, dass aber Wettkämpfe nicht immer "fair" ablaufen, dass ein "Crash fesch ist" (Rainhard Fendrich) für nicht wenige, ist bekannt. Aber auch darum geht es hier nicht.

Neue Reglements

Es geht hier zum einen um die Definition von Ausnahmesituationen, die sinnvolle Grenzen eines Wettbewerbs aufzeigen können, die den Athleten und Athletinnen einen Freiheitsgrad einräumen, wo sie sagen dürfen: "Wir haben einen ehrlichen Wettkampf gefochten. Es ist jetzt genug. Lasst uns beide als Sieger/Siegerinnen den Wettkampf beenden." Zum anderen wäre es wünschenswert, wenn die Reglements der einzelnen Sportarten grundsätzlich so überarbeitet werden würden, dass es mehr Sieger und Siegerinnen geben kann.

Die Gesellschaft hat längst akzeptiert, dass es nicht immer nur einen Sieger, eine Siegerin geben muss. Die Organisatoren der einzelnen Sportarten, das Internationale Olympische Komitee – und damit auch die Politik – sind aufgefordert, ihre Wettbewerbsregeln zu überdenken. Ganz unabhängig davon, ob Thiem und Zverev die Option wahrgenommen hätten, wenn es sie gegeben hätte. Allemal wäre es aber interessant gewesen herauszufinden, wie die Organisatoren reagiert hätten, wenn das Tennismatch so abgebrochen worden wäre, wie ich es hypothetisch in den Raum gestellt habe. (Ernst Löschner, 17.9.2020)