Für "ÜBER:" unterwegs: Daniela Emminger und Judith Nika Pfeifer besuchen Friederike Mayröcker und beginnen ihr Format bei einer ganz Großen.

Foto: Nina Keinrath, 2020

Klar ist so eine Zusammenarbeit immer auch ein Zufall – und dann auch wieder nicht. Denn Daniela Emminger und Judith Nika Pfeifer wollten beide schon eine kleine Ewigkeit dasselbe, nämlich eine Buchsendung machen. Dass sich die beiden Autorinnen dann ausgerechnet in New York (Pfeifer hatte eine Gastprofessur in Georgetown, Washington, D.C., und Emminger eine Residency in NY) und ausgerechnet im März, also kurz vor dem Corona-Shutdown, getroffen haben, war natürlich auch Glück.

Das erzählten sie alles vor ein paar Tagen im Café Engländer in der Wiener Innenstadt, und bei beiden Schriftstellerinnen ist eine angenehme Aufregung spürbar, dass ihr gemeinsames Projektbaby drauf und dran ist, das Licht der Welt zu erblicken.

ÜBER: wird es heißen, dieses zeitgenössische Literatur-Onlineformat, weil es ja tatsächlich über alles Mögliche sein wird, über Schriftstellerinnen und Schriftsteller, über Bücher – und da nicht unbedingt über die der Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die gerade vorkommen, sondern über deren Lieblingsbücher, Lieblingsautorinnen und -autoren. "Wir kritisieren nicht", sagt Emminger, "wir empfehlen!"

Und da sind wir schon mitten im Kern, warum sich diese neue Sendung ganz wesentlich von herkömmlichen Literaturformaten im deutschen Sprachraum unterscheiden wird. Man denke an erLesen oder DasLiterarische Quartett oder Druckfrisch: "Dezent konservativ, antiquiert und von alten Männern repräsentiert", sagt Emminger lachend. "Lasch, pseudoernst und viel zu brav", ergänzt Kollegin Pfeifer.

Wir wollen keine Bücher zerreißen

Beide Autorinnen sind sich einig, dass es angesichts der Unmengen an permanenten Neuerscheinungen einfach keinen Sinn mache, sich groß als Kritikerin aufzuspielen und Bücher zu zerreißen. Es geht den Sendungsmacherinnen mehr darum, spannende Literatur entdecken zu können.

Sie wollen sich in den zukünftigen Sendungen – alle zwei Monate wird eine Ausgabe von ÜBER: online gehen – darauf konzentrieren, interessanten neuen, aber auch alten Lesestoff zu empfehlen. Natürlich kennen die beiden lesebegeisterte Blogs oder literaturkundige Leseklubs.

Aber: "Erstere sind mir oft zu selbstverliebt und Letztere manchmal zu langatmig!", sagt Emminger. "Wir wollen einen schrägen Mix aus angesagten, aber auch, oft aus nicht nachvollziehbaren Gründen, unbekannten Autorinnen und Autoren", erklärt Pfeifer das Sendungskonzept von ÜBER:.

Und dann kommt der Satz, der wahrscheinlich die Intention der beiden Neoliteratursendungsmacherinnen am besten auf den Punkt bringt: "Wir wollen einfach Lust aufs Lesen und Bücher wieder cool machen."

Jenseits des Mainstreams

Denn, dass Literatur und Lesen beim jüngeren Publikum auf der Beliebtheitsskala in Sachen zeitgenössische Beschäftigungsformen nicht mehr ganz oben rangieren, ist angesichts der übermächtigen Konkurrenz durch Social Media und Streamingportale keine Neuigkeit.

Bücher sind, vor allem bei den Jungen, nicht so hip. Auch das soll ÜBER: als unabhängiges Onlinebuchformat ändern und eine junge, weltoffene, multiinteressierte Zielgruppe ansprechen, die ohnehin nicht mehr fernsieht, sondern ihre Informationen und Unterhaltung aus dem Netz zieht. Es geht also auch um Empfehlungen jenseits des Mainstreams, jenseits von Buchmarkt- und Buchmarketinggesetzen. Es geht um "eine Art Leseaustausch!", sagt Judith Nika Pfeifer.

Wer soll bei "ÜBER" dabei sein?

Angesichts der Frage, wer bei ÜBER: in Zukunft vorkommen soll, sprudelt aus beiden Autorinnen eine ganze Liste von Namen heraus: Haruki Murakami, Alexander Kluge, Marjana Gaponenko, Monika Rinck, Fiston Mwanza Mujila, Gerhard Rühm, Miranda July, Gianna Molinari, Peter Handke – und und und.

Am Nebentisch im Café Engländer hat Gottfried Helnwein Platz genommen, der wie eine tolle Karikatur seiner selbst aussieht, während Daniela Emminger und Judith Nika Pfeifer gerade bedauern, dass tote Schriftsteller keine Empfehlungen mehr geben können und eine Liste jener verstorbenen Schriftsteller und Autorinnen verhandeln, bei denen sie noch gern um ein Interview angeklopft hätten: "Beim US-Enfant-terrible David Foster Wallace natürlich", sagt Pfeifer, "oder bei der schwarzen, feministischen Science-Fiction-Autorin Octavia Estelle Butler." Und Emminger: "Bei Stanisław Ignacy Witkiewicz." Stanisław Ignacy wer? Eben, es geht ums Entdecken. Der polnische Schriftsteller, der 1939 gestorben ist, war auch Maler, Fotograf und Philosoph.

ÜBER Literatur: "Wir wollen Lesen (wieder) cool machen"
DER STANDARD

Es geht auch um Offenheit

Es geht in dieser neuen Literatursendung auch um Offenheit. Jede der 15-Minuten-Folgen soll unter einem bestimmten Leitthema stehen. Das kann "Tempo" sein oder "Fliegen", "Zuckerwatte" oder "Ekstase", nur um einen kleinen Einblick in die derzeitige Wunschthemenliste zu geben.

So gesehen haben die Sendungsverantwortlichen wenig Berührungsängste, es kann auch um Sachbücher gehen, um Biografien, "von Jörg Haider oder Karl Moik", sagt Emminger, "oder Bildbände wie André Hellers Thomas Bernhard – Hab & Gut, fotografiert von der fabelhaften Hertha Hurnaus."

Es ist kein Zufall, dass es vier Frauen sind, die diese Sendung machen. Emminger und Pfeifer sind für den Inhalt zuständig, die zwei Kamerafrauen Angela Christlieb und Nina Keinrath filmen die Beiträge. ÜBER: ist auch ein feministisches Projekt, eben weil den Macherinnen klar ist, dass das Wort "Frauenliteratur" oder das literarische Phänomen "Fräuleinwunder" gesellschaftlich einen Backlash bedeuten. Sie wissen nur zu gut: "Der Kanon, der gelehrt wird, ist immer noch westlich zentriert, weiß und männlich dominiert." Das ändert sich nur langsam, hoffentlich auch durch ein Onlineliteraturprojekt wie ÜBER:.

Am Anfang geht es ums Beginnen

Eigentlich ist es vollkommen unverständlich, dass es ein solches oder ähnliches Format noch nicht gibt, so lautete zumindest das allgemeine Feedback an Emminger und Pfeifer während der Produktion ihrer ersten Sendung, die auch wegen der Corona-Pandemie nicht immer ganz einfach war.

Geht es aber um die Finanzierung eines solchen Projekts, mussten Emminger und Pfeifer bemerken, dass weder öffentlich-rechtliche Sender oder Ministerien noch der Buchhandel oder Verlage sich ein solches Format leisten wollen. Bildungsauftrag hin oder her. Sie machen es trotzdem.

In der ersten Sendung geht es ums "Beginnen". Das ist schön logisch und auch in Corona-Zeiten ein positives Zeichen. Den Beginn bei ÜBER: machen neben anderen Autorinnen und Autoren die 40-jährige, in Wien lebende, serbische Autorin Barbi Marković, die etwa auch Bücher empfiehlt, die noch nicht ins Deutsche übersetzt wurden, oder die 95-jährige Friederike Mayröcker, Lieblingsautorin von Daniela Emminger, deren neues Buch da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete gerade erschienen ist.

"Schreiben ist das halbe Leben", sagt die großartige Mayröcker, "Lesen ist das ganze Leben!" Mehr wird nicht verraten. Nur eines noch: Das STANDARD-ALBUM ist als Kooperationspartner mit an Bord dieses neuen, coolen Onlineliteraturformats. Und jetzt? Genug über ÜBER:. Schauen Sie selbst! (Mia Eidlhuber, 19.9.2020)