Yevgenia Belorusets, "Glückliche Fälle". Aus dem Russischen von Claudia Dathe. 20,60 Euro / 160 Seiten. Matthes-&-Seitz-Verlag, 2019

Cover: Matthes & Seitz Berlin

Seit Yevgenia Belorusets teilweise in Berlin lebt, ist ihre Perspektive auf die Ukraine auch eine von außen: So ist sie 2015 mit Fotokamera und Schreibblock in ihr Heimatland gereist, wo der diffuse Krieg im Osten alles verändert hat. Aber nicht der Krieg hat sie dabei interessiert, sondern das Alltagsleben der einfachen Menschen, das ja trotzdem weitergehen muss.

"Die inhaltlichen Linien dieses Buches", bekennt sie im Vorwort, "widmen sich nicht den Umbruchgeschichten der Gegenwart, sondern (…) ihren Rändern." Die Ränder sind immer dort, wo die "traumatischen historischen Ereignisse" tief in den Alltag eindringen, Träume, Ängste, Fantasien bestimmen.

Belorusets fotografischer Blick registriert die kleinen Dinge an ebendiesem Rand, aber die Wahrnehmungen, die fotografisch zum erzählten Material verdichtet werden, bedeuten immer mehr als das Alltägliche, als es die augenblickliche Situation vermittelt.

Verblüffend

Geradezu symbolhaft eine der ersten Geschichten: Eine junge Frau entdeckt an ihrem Nachthemd einen Riss, er klafft direkt neben der Brust, dort, wo das Herz schlägt.

Sie nimmt Nadel und Zwirn, akkurat vernäht sie den Riss, und dann passiert es, dass sie die Nadel im Hemd vergisst – "knapp neben ihrem Herzen" bleibt die Nadel stecken. Die Frau spürt es nicht, so als hätte sie an dieser Stelle eine Kerbe, in die die Nadel genau hineinpasst. "Verblüffend", sagt das Erzähler-Ich, "schauderhaft", und: "Es verschlägt uns die Sprache, aber wir können nichts tun."

Oder die Frau, die an einem 8. März in Kiew plötzlich keinen Schritt mehr tun kann, also bleibt sie auf einer Steinbank sitzen. Ein Mann mit drei Blumensträußen kommt vorbei, einen wirft er der Frau zu, "wie man einem Hund einen Knochen zuwirft".

Ausnahmezustände

Die Frau lächelt, sie weiß, es gibt Tage, da benehmen sich die Menschen Frauen gegenüber aufmerksam. Und irgendwann an diesem Tag wird sie "mit einem triumphierenden Lächeln" versuchen, wieder auf die Beine zu kommen. Es sind Bilder wie diese, die die ukrainische Realsituation mit beeindruckender Dezenz beschreiben. Man sieht die Menschen in ihrer Alltäglichkeit und spürt doch den Ausnahmezustand und das heimliche Arrangement mit den neuen Verhältnissen.

Und man spürt ihre Angst, dass die Geschichte an ihnen vorbeigeht. Eben das vermitteln die aus Begegnungen, Gesprächen und Beobachtungen entstandenen Mikrogeschichten: von Menschen, die nichts anderes tun, als Normalität zu versuchen.

Versteht man das im Westen? Das Problem der Wahrnehmung, hat die Autorin 2015 in einem Interview gesagt, ist, dass sich die Realität nicht durchsetzen kann, dass überall außerhalb des Landes verzerrte Wahrnehmungen bestehen. Aber wie ist das in der Ukraine selbst? Es ist nicht nur der Krieg im Osten, der das gesellschaftliche Gefüge verändert.

Der kürzeste Text im Buch ist eine Stellenannonce der Nationalen Akademie der Künste, in der nach einer Sekretärin gesucht wird. Die muss nicht nur Englisch sprechen und Computerkenntnisse besitzen, sie muss vor allem jung sein und "das Äußere eines Models" haben. Darunter sieht man das Foto einer Betonruine, verlassen in der Landschaft stehen.(Gerhard Zeillinger, 19.9.2020)