Deutschlands Innenminister Horst Seehofer (CSU) übt scharfe Kritik an Österreichs Regierung in der europäischen Flüchtlingsfrage.

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Lesbos – Deutschlands Innenminister Horst Seehofer (CSU) übt scharfe Kritik an Österreichs Regierung in der europäischen Flüchtlingsfrage. "Ich bin von der Haltung unserer österreichischen Nachbarn enttäuscht, sich an der Aufnahme einer überschaubaren Zahl von Schutzbedürftigen aus Griechenland nicht zu beteiligen", sagte Seehofer dem "Spiegel". "In einer solchen Situation muss Europa Geschlossenheit zeigen. Wenn wir nichts tun, stärken wir die politischen Ränder."

Nach dem Brand im Flüchtlingslager Moria hatten Deutschland und zehn andere europäische Staaten entschieden, zusätzlich 408 Familien von den griechischen Inseln aufzunehmen, die bereits als Flüchtlinge anerkannt sind. Bei 150 unbegleiteten Minderjährigen könnte dies bereits Ende September der Fall sein. Die Kirche in Italien will weitere 300 Flüchtlinge aufnehmen.

Auf Dauer müssten sich jedoch alle EU-Staaten an der Bewältigung der Flüchtlingsfrage beteiligen, sagt Seehofer: "Wer sich in der Migrationspolitik nicht solidarisch zeigt, kann auch an anderer Stelle keinen Anspruch auf solidarische Leistungen erheben."

Die österreichische Regierung will nach eigenen Angaben für rasche Unterstützung vor Ort sorgen, "aber keine neuen Anreize für Schlepper" schaffen.

Warum weigert sich die ÖVP so hartnäckig, Flüchtlinge aus Moria aufzunehmen? Ist es nur Wahltaktik oder echte Überzeugung? Sind die Grünen jetzt die großen Verlierer der Koalition. Darüber diskutierten die Politikwissenschafterin Kathrin Stainer-Hämmerle, die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger und der ÖVP-nahe Kommunikationsberater Wolfgang Rosam in der STANDARD-Videodebatte.
DER STANDARD

Mauthausen-Komitee mit Videoappell

Damit zeigt sich auch das Mauthausen-Komitee nicht einverstanden und hat deshalb ein Video veröffentlicht, in dem Nachkommen von NS-Opfern die Geschichte ihrer Großeltern erzählen, die als Jugendliche hatten fliehen können.

"Wir sind heute nur hier, weil es damals Menschen gegeben hat, die unseren Großeltern geholfen haben", betont Amber Weinber darin. Rouven Margules ergänzt: "Diese Menschen haben damals nicht gefragt, ob dann vielleicht noch mehr kommen. Sie haben einfach Menschlichkeit bewiesen."

Das Mauthausen-Komitee will mit einem Video wachrütteln.
Mauthausen Komitee Österreich

"Österreich ist ein sicheres und wohlhabendes Land", betont der Vorsitzende des Mauthausen-Komitees, Willi Mernyi. "Wenn wir uns trotzdem weigern, hungernde und frierende Flüchtlinge – unter ihnen viele Kinder – aufzunehmen, haben wir aus unserer Geschichte nichts gelernt."

Am Freitag brachten Unbekannte ein Transparent am Wiener Bundeskanzleramt an: "Hier regiert der Kanzler der Schande. Moria evakuieren", lautete die Botschaft darauf.

Ein Transparent am Bundeskanzleramt.
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EU-Kommissarin fordert Solidarität

EU-Innenkommissarin Ylva Johansson will die Mitgliedsstaaten bei der geplanten Asylreform ebenfalls zur Solidarität verpflichten. "Die EU-Länder müssen sich darauf verlassen können, dass ihnen andere EU-Länder im Notfall Flüchtlinge abnehmen", sagte Johansson dem "Spiegel".

Die EU-Kommission will am kommenden Mittwoch ihre mehrfach verschobenen Pläne für eine Reform der Asyl- und Migrationspolitik vorlegen. Alle derartigen Versuche sind in den vergangenen Jahren an der Frage der Verteilung von Flüchtlingen gescheitert. Finanzielle Hilfen alleine sind für Johansson zu wenig: "Um aber auch das klar zu sagen: Damit, ein paar warme Decken zu verteilen, wird es in keinem Fall getan sein."

Die Innenkommissarin bekräftigte jedoch auch, dass die EU die Zahl der Rückführungen künftig deutlich erhöhen will. Bei wirksamem Grenzmanagement und Rückführungen würde man sehen, "dass es sich um überschaubare, planbare Zahlen in einer Notfallsituation handelt", sagte sie. "Die Migranten, die zurückgeschickt werden, wollen wir beispielsweise gar nicht erst in der EU verteilen. Die, die eine positive Asylentscheidung haben, allerdings schon."

Übersiedlung am Laufen

Mehr als 5.000 Migranten aus dem abgebrannten Lager Moria sind indes nach offiziellen Angaben in den vergangenen Tagen in das Zeltlager von Kara Tepe auf Lesbos gegangen. Am Freitag harrten noch geschätzt 7.000 Migranten im Freien aus.

Bisher wurden nach Angaben des griechischen Migrationsministers Notis Mitarakis 135 Migranten positiv auf das Coronavirus getestet. Sie wurden im Zeltlager isoliert. Humanitäre Organisationen bemängeln, dass es nicht ausreichende Gesundheitsfürsorge im Lager gebe. Das dementierte die griechische Regierung. Viele Flüchtlinge zögern, das neue Lager zu beziehen; sie befürchten, dort eingesperrt zu werden, und fordern stattdessen, von der Insel aufs Festland gebracht zu werden. Athen hält sich aber an das Abkommen der EU mit der Türkei vom Jahr 2016. Demnach müssen alle Migranten auf den Inseln bleiben, bis ihr Asylverfahren abgeschlossen ist. Wer kein Asyl bekommt, muss in die Türkei zurück.

Angespannte Lage

Ein Sonderkommando der griechischen Polizei, darunter 70 Frauen, versucht seit Donnerstag insbesondere Familien zu überreden, in das Zeltlager zu gehen. Bisher laufe die Aktion gut, sagte ein Polizeioffizier im Rundfunksender Skai. Die schwierigste Phase steht laut Polizeiquellen jedoch noch bevor: Es gebe nämlich rund 1.500 radikale Migranten, die sich auf den Hügeln der Insel versteckt halten. Die Asylanträge der meisten dieser Menschen seien abgelehnt worden. Sie sähen aber die chaotischen Zustände nach dem Brand des Lagers als eine letzte Chance, noch aus humanitären Gründen zum Festland gebracht zu werden. Die Polizei hat deswegen starke Einheiten auf Lesbos gebracht. (APA, AFP, dpa, red, 18.9.2020)