Paula Wolf dreht das Licht an ihrem Schreibtisch auf, zwölf Glühbirnen, dazu drei großflächige LED-Lampen. Eine Ringleuchte rahmt zusätzlich ihr Handy ein, das auf einem Stativ steht. Die 22-Jährige tippt auf ihr Smartphone, öffnet die Tiktok-App und beginnt zu filmen. Auf ihrem Ikea-Schreibtisch stehen Boxen, gefüllt mit Lippenstiften, Konturenstiften und Pinseln. Während der Aufnahme kann sie sich selbst beobachten, das Handy ist Kamera und Spiegel zugleich. In ein paar Stunden werden bis zu eine Million Menschen das Video gesehen haben.

Wolf, blonde Haare und Sommersprossen, ist Influencerin in Sachen Schönheitstipps. In Österreich gibt es wohl keine erfolgreichere Person, die sogenannte Make-up-Looks präsentiert – dank der Video-App Tiktok. Knapp 900.000 Leute folgen ihr dort. "Die Zahl hört sich immer noch komisch an", sagt Wolf in ihrem "Filmstudio" in Wien-Meidling, das zugleich ihr Schlafzimmer ist. Wie in ihren Videos lächelt sie oft verschmitzt, aber wenn es um ihren plötzlichen Ruhm geht, wirkt sie fast verlegen. Es sei seltsam, auf der Straße angesprochen zu werden. "Ich bin eigentlich eher der schüchterne Typ." Ihr Leben habe sich innerhalb eines Jahres "komplett verändert, nur durch eine einzige App", sagt sie.

Pula Wolf ist ein kleiner Star – auch wenn sie den wenigsten Erwachsenen etwas sagen wird. 900.000 Kids folgen ihren Beauty-Tipps auf der Video-App Tiktok.
Foto: Christian Fischer

Das Kurzvideoportal Tiktok ist die erfolgreichste Handy-App bei Jugendlichen rund um den Globus. Was sie zur digitalen Heimat der Zwölf- bis 18-Jährigen auch in Österreich macht, sind ein paar feine Unterschiede zu anderen sozialen Medien. Die Videos dürfen höchstens 60 Sekunden dauern, meist sind sie deutlich kürzer. Es ist in der App sehr einfach, einen Clip mit Musik zu unterlegen – so wurden Tanzvideos ein wichtiges Tiktok-Genre. Und Tiktok macht es kinderleicht, Videos zu drehen und zu schneiden sowie Spezialeffekte zu erzeugen. Das Ergebnis ist eine eigene Ästhetik – laut, schnell, schräg, bunt. Eine App trifft das Lebensgefühl einer Generation.

Tiktok gehört dem chinesischen Internetkonzern Bytedance, der die App einst mit einer anderen, Musical.ly, verschmolzen hat. Musical.ly war bekannt für ihre Lippensynchronisierungsfunktion, bis heute ein beliebtes Spielzeug vieler Tiktoker. In einem vergangenen Oktober geleakten Dokument schrieb Tiktok von weltweit mehr als 800 Millionen monatlich aktiven Nutzern. Bis zu diesem Mai wurde Tiktok bereits zwei Milliarden Mal heruntergeladen. Allein in den USA gebe es 100 Millionen Nutzer, behauptet Tiktok selbst.

Trump vs. Tiktok

US-Präsident Donald Trump erfreut dies gar nicht. Er will Tiktok schon diesen Sonntag aus den amerikanischen App-Stores verbannen lassen. Die jugendlichen US-Nutzer werden dann zwar noch Tiktok-Videos auf ihren Handys sehen können, doch es soll keine Software-Updates mehr geben. Schon im Sommer hatte Trump angekündigt, die Plattform in den USA verbieten zu wollen. Er begründete das mit der Befürchtung, der Eigentümer Bytedance gebe Daten an die Regierung in Peking weiter. Bytedance wies diesen Spionagevorwurf zurück. Dennoch begann im August ein Ringen um das US-Geschäft von Tiktok, in dem Microsoft, die Handelskette Walmart und der Softwarekonzern Oracle mitboten. Nun steht Tiktok in den USA offenbar doch vor dem Ende. Zugleich verbietet die Trump-Regierung Google und Apple künftig auch, die chinesische Kommunikations-App Wechat zur Installation anzubieten. Es ist schließlich Wahlkampf.

Wenn Tiktok vom US-Markt gedrängt wird, würde das auch Leo Tokio aus Wien-Liesing treffen. Die Hälfte seiner Fans sei englischsprachig, viele aus den USA, erzählt der 19-jährige Maturant, bevor er für den Fototermin in eine übergroße Jeansjacke schlüpft. Ein "Denim-Streetstyle-Look", erklärt er auf Nachfrage. Mit Tanz-, Mode- und Musikvideos hat der Wiener mit japanischer Mutter und persisch-österreichischem Vater bisher mehr als 250.000 Follower bei Tiktok gewonnen.

Leo Tokio verdient mit 250.000 Tiktok-Followern sogar schon Geld. Vierstellige Beträge bekommt der 19-jährige Maturant, wenn er in seinen Kurzclips Fastfoodketten oder Bekleidungsmarken einbaut.
Foto: Christian Fischer

Auf Tiktok kann man alle Arten von Videos finden, platten Slapstick, Spielereien, aber auch kleine Meisterwerke. Die Videos von Leo Tokio, der seinen bürgerlichen Namen lieber nicht öffentlich machen will, zählen oft zur letzten Kategorie. In seinen Videos spricht Tokio in der Regel nicht, er teilt seine Botschaften geschickt durch eingeblendete Texte, seine Mimik oder seinen Tanzstil mit.

Die Statements seiner Videos reichen von einem Plädoyer für den japanischen Grüntee Matcha bis zu jenem, Männer sollten öfter Schmuck, Make-up und bunte Kleidung tragen. R&B-Klänge oder sanfter Hip-Hop untermalen fast jede seiner Aufnahmen. "Ich mag schöne, bunte, helle Dinge", sagt Leo Tokio im Garten seines Elternhauses mit leichter Selbstironie. "Ich versuche, in meinen Videos alles schön aussehen zu lassen, damit die Leute ein bisschen Dopamin ausschütten."

Clip für Cash

Dank seiner Tiktok-Reichweite kann Leo Tokio seine Talente auch vermarkten. Für ein Tiktok-Video bekomme er teilweise vierstellige Honorare. Zu seinen Kunden zählten schon der Schuhdiskonter Deichmann, die Fastfoodkette KFC und die Stadt Wien, für die er in einem Anti-Corona-Video tanzte.

Auch Paula Wolf kann von ihren Videos leben. Es kämen regelmäßig E-Mails von Kosmetikfirmen, die ihr für die Präsenz von Produkten in Videos Geld anböten. Auch Plattenfirmen würden sie bitten, bestimmte Lieder gegen Honorar in ihre Clips zu packen. "Blöde Anfragen" von Händlern, die ihre Waren offensichtlich zu Wucherpreisen verhökern, lehne sie natürlich ab.

Ihr altes Instagram-Profil hat Paula Wolf kürzlich stillgelegt. Dieses hatte sie auf Englisch geführt. Nun schoss ihre Popularität bei Tiktok aber durch die Decke. Und weil Wolf dort Deutsch spricht und auf beiden Plattformen dieselben Fans ansprechen will, gibt es nun ein neues – deutschsprachiges – Instagram-Profil. 330.000 Fans des alten Instagram-Kontos sind damit futsch. Sprich: Paula Wolf hat ein Instagram- zugunsten ihres Tiktok-Profils aufgegeben. "In der Hoffnung, dass dadurch langfristig noch mehr daraus wird", sagt sie.

Paula Wolf spürt mit der Zahl ihrer jungen Zuschauer auch die Verantwortung wachsen. "Make-up soll Spaß machen, es geht nicht darum, perfekt zu sein", sagt sie. Auf dem neuen Instagram-Profil hat sie eine Rubrik namens "Selbstliebe-Sonntag" ins Leben gerufen. In der ersten Folge bemalte sie die Dehnungsstreifen auf ihren Oberschenkeln mit Glitzer, damit sie leuchten. "Ich habe meine Dehnungsstreifen seit der Pubertät, seitdem aus mir eine Frau wurde. Warum sollte ich mich dafür scha¨men?", schrieb sie.

An Tiktok schätzt Wolf eine kreative Lockerheit, die sie bei Instagram und anderen sozialen Medien vermisst: "Bei Tiktok kann man auch seine schlechten und lustigen Seiten zeigen. Man kann viel gelassener über bestimmte Themen reden."

Generation Tiktok

Auch Leo Tokio sieht sich nicht als Missionar, seine Botschaften vermittelt er scheinbar beiläufig. Er hinterfragt Geschlechterrollen und protestiert gegen Rassismus. Damit ist Leo Tokio auch ein Gesicht der "Generation Tiktok", die bei der Black-Lives-Matter-Demonstration im Juni in Wien mit 50.000 Teilnehmern erstmals auch ins Sichtfeld jener Altersgruppe geriet, die sich vorrangig auf Facebook bewegt und Tiktok vielleicht teilweise mit einem Minzbonbon verwechselt.

In der "Generation Tiktok" gelten in den Schulhöfen, anders als früher, Witze gegen Frauen, Homosexuelle oder Migranten nicht als salonfähig. Der österreichische Tiktoker mit den weltweit meisten Followern ist vielleicht nicht zufällig Candy Ken, eine geschlechtsneutrale Kunstfigur, die der 28 Jahre alte Vorarlberger Jakob Kasimir Hellrigl geschaffen hat. Hellrigl arbeitet als Rapper und Model, derzeit lebt er in Los Angeles. Seinen Videos folgen zehn Millionen Fans. Als Candy Ken trägt er quietschbunte Kleidung, Schminke und Nagellack und führt ein hedonistisches Dasein. Seine Muskeln sind in den Clips zwar klarer definiert als seine politischen Botschaften. In einem seiner wenigen ernsten Interviews sagte Hellrigl aber, als Candy Ken wolle er den Menschen, vor allem Außenseitern, Selbstbewusstsein und Toleranz vermitteln.

Von Wien bis Tokio

In einem Einfamilienhaus in Wölbling, auf halbem Wege zwischen St. Pölten und Krems, liegt die Kreativstube von Christoph Brückner. Von seinem schlecht beleuchteten Arbeitszimmer aus versorgt der Niederösterreicher, Pseudonym condsty, mehr als acht Millionen Tiktok-Follower mit seinen Filzstiftzeichnungen. Brückner, 36 Jahre alt, zweifacher Vater, fährt mit dem Finger über sein Huawei-Handy und zeigt ungläubig, woher seine Fans stammen: Indonesien, Südkorea, Frankreich, Malaysia und so weiter. Sehr wenige nur aus Österreich. Brückner zeichnet dreidimensionale Buchstaben, Symbole oder Comicfiguren. "Ich male einfache Dinge, daher kommt der Erfolg", glaubt Brückner. "Was ich zeige, können Kinder nachmachen." Geld verdient er damit bisher nicht. Er arbeitet als Gemeindebediensteter, in diesem Sommer übernahm er die Rolle des Bademeisters.

Christoph Brückner alias condsty versorgt seine Follower auf Tiktok mit lustigen 3D-Filzstiftzeichnungen. Seine Produktionszeit ist um sechs Uhr morgens, danach will er sich nämlich um seine beiden Töchter kümmern.
Foto: Christian Fischer

24-Stunden-Produktion

Während ihm seine Fans aus Asien Kommentare wie "Ich liebe alle deine Videos" und Herzen schicken, würden seine Arbeitskollegen und Freunde nichts damit anfangen können. Und seine zwei kleinen Töchter? "Die beschweren sich eher, dass der Papa schon wieder das Handy in der Hand hat." Um mehr Zeit mit seinen Töchtern zu verbringen, zeichnet er die Bilder für seine Tiktok-Videos schon um sechs Uhr früh, wenn sie noch schlafen. Die Zeichnungen, die dann oft eine halbe Million Mal angeschaut werden, entstehen in der Mostviertler Morgendämmerung.

Man hört im Gespräch mit Christoph "condsty" Brückner auch Stolz heraus. "Mit Tiktok habe ich richtig zeichnen gelernt", sagt der Tiktok-Star, den in Österreich keiner kennt. Auch wenn er regelmäßig nach Krems fahren muss, um beim Diskonter Action die billigsten Stifte zu kaufen, damit er sich seine Tiktok-Produktion leisten kann, tüftelt er weiter daran, seine Striche noch genauer zu ziehen. Oder fragt sich, ob er mit blau oder mit schwarz kariertem Papier mehr Zugriffe bekommt.

Diese Hingabe zum perfekten Kurzvideo teilt Christoph Brückner mit Leo Tokio und Paula Wolf. Auch wenn auf Tiktok die Videos kürzer sind, stehen die Protagonisten im Ehrgeiz hinter ihren Kollegen aus dem klassischen Film und Fernsehen nicht zurück.

"Ich versuche, drei Videos pro Tag zu drehen", sagt Paula Wolf. "An einem Tag pro Woche schaffe ich leider nur zwei." Sie produziert täglich, von Montag bis Sonntag. Manchmal träfen sich abends ihre Freunde, aber wenn sie noch ein Video schneide, dann sage sie ab. "Ich gebe mir richtig viel Mühe", erklärt sie. "Es ist halt mein Traum." (Lukas Kapeller, 18.9.2020)