Irgendwas haben die Operetten-Nachmittagsfilme aus dem Fernsehprogramm unserer Jugend mit uns und unserer Vorstellung von Wien angestellt. Der Prater? Blühendes Liebesglück. Bälle: rauschende Feste für den Adel, der dort allenfalls mit einem unschuldigen Dienstmädl kokettierte. Arbeiterinnen, die an vorderster Front gekämpft haben? Prostitution? Nix da. Wie die Kuratorin Michaela Lindinger vom Wien-Museum so schön sagt, wenn sie mit beruflicher Expertise enttäuschen muss: "Die alte Zeit war niemals gut".

Und: Die baulichen Erinnerungen an "die alte Zeit" und ihre Zugänglichkeit sind auch längst Teil der Stadtgeschichte. Räume verschwinden, und werden wieder bespielbar. Heute zum Beispiel erstrahlt der "Deutschmeistersaal" in der Albertgasse in neuem Glanz. In den 1990er-Jahren in Wien stapelte sich hier Papier bis zur hohen Decke, weil eine Druckerei den Raum schlicht als Lager nutzte. Und da, wo in der Annagasse 3 im ersten Bezirk im Untergeschoß seit Jahren ein Skater-Shop seine Ware verkauft, da liegen die Lokale der Jahrhunderte schon fast schichtweise übereinander, aber mehr darüber später.

Einst wurden hier rauschende Ballnächte gefeiert, nun befinden sich im ehemaligen Ballsaal in der Annagasse 3 im ersten Bezirk ein Fast-Food-Restaurant ...
Foto: Karl Bach

Grundsätzlich sind nicht mehr allzu viele dieser Ballsäle übrig, egal in welcher Verwendungsform. Das liegt nicht nur an zwei Weltkriegen und den vielen Bränden, denen alte Wiener Holzbauten oft zum Opfer fielen, sondern auch am Denkmalschutz, den gibt es zwar seit dem 19. Jahrhundert, "aber er hat sich auf andere Dinge bezogen als heute", wie Lindinger es euphemistisch formuliert.

Dabei gab es in Wien deutlich mehr Ballsäle als anderswo, und das nicht etwa wegen einer stadtspezifischen Feierwut, sondern wegen Kaiserin Maria Theresia. Sie erließ im 18. Jahrhundert eine sogenannte Faschingsordnung.

Die Stadt, ein Ballsaal

"Früher war es üblich, dass die Leute maskiert auf die Straße gegangen sind und dort abgefeiert haben. Da gab es gelegentlich Schlägereien, der Legende nach sollen auch Leute umgebracht worden sein, es ist zu Unruhen gekommen auf der Straße, außerdem sind im Zuge des Faschings Regierung und Kirche verhöhnt worden", so Lindinger.

Skandal! Also wurden Masken auf der Straße kurzerhand verboten – der Grund, warum Ballsäle überhaupt aufkamen. Gleichzeitig entwickelte sich die Vergnügungskultur der Vorstädte. Hier gab’s dreckige Lyrics von Volkssängerinnen und Volkssängern, dann wurde auch noch hemmungslos unanständig Walzer getanzt, vom Volk nämlich, und nicht am Hof. Eng aneinandergedrückt. Ganz ohne die distanzierten Formalitäten von Menuett, Polonaise oder Quadrille.

... und ein Skatershop.
Foto: Karl BAch

In den Ballsälen von Ottakring, Hernals bis Neulerchenfeld ließ man es krachen, und das zu vielt: Im 19. Jahrhundert war die Stadt Wien innerhalb von 50 Jahren auf die doppelte Zahl an Einwohnerinnen und Einwohnern gewachsen. Auch Kronprinz Rudolf war berühmter Teilnehmer solcher Festivitäten, man fuhr mit seinen Militärfreunden in die Vorstadt "um sich dort auszuleben". Denn so schön manche Ballsäle heute erstrahlen, das Nachtleben seinerzeit war eher notorisch. Der Adel konnte konsequenzlos treiben, was er wollte (noch heute erinnert die Witwe Bolte am Spittelberg an den kaiserlichen Puff-Zechpreller: "Durch dieses Thor im Bogen ist Kaiser Josef II. geflogen 1778"). Der Spittelberg war bereits im 18. Jahrhundert ein Zentrum der Sexarbeit. Für ein Separee im Sacher hatten nämlich nur Erzherzöge, Großbankiers und Hofbeamte das Geld.

Auch berühmte Bäder wurden winters aus finanziellen Gründen als Ballsaal genutzt, das Dianabad und das Sophienbad. In den Sophiensälen dirigierte zur Eröffnung 1848 Johann Strauß Vater, 1926 gründet hier Mittelschullehrer Richard Suchenwirth die österreichische Nationalsozialistische Partei, später war hier eine "Sammelstelle" von zur Deportation bestimmten Jüdinnen und Juden. Und 1946 spielte man wieder Operetten, als stünde kein Völkermord zwischen dem rückwirkend erfundenen "Altösterreich" und dem danach.

Stadtsaal

Der heute als Kabarettbühne genutzte Stadtsaal lag lang hinter den Verkleidungen der Konsumenteninformation im Dornröschenschlaf. Er gehörte einst zu einem Etablissement namens Zum blauen Bock. Die in Wien tätigen Textilarbeiterinnen holten sich hier ein billiges Mittagessen. "Die Näherinnen waren die am frühesten politisierten Frauen unter den Proletarierinnen, im Blauen Bock waren schon seit den 1860er-Jahren die Arbeiterbildungsvereine angesiedelt", erklärt Lindinger.

Doch zurück in die Annagasse 3 in den ersten Bezirk. Sie war noch lange ein legendärer Ort, Heimat der Diskothek Montevideo, die Hansi Lang verewigte, und der Tenne, in der die Bambis in den 1960er-Jahren ihr Lied von der "Melancholie" sangen. Und weil in Wien die Geschichte bekanntermaßen niemals aufhört, verstarb im selben Haus unter ungeklärten Umständen 1939 Fußballgott Matthias Sindelar. Bereits 1840 gab’s hier im Keller das Neue Elysium, eine Art unterirdischer "Erlebniswelt" mit Räumen, die Afrika, Europa, Asien und Amerika darstellten – oder das, was man sich darunter vorstellte.

Geh ma ins Tabarin!

In den 1920er-Jahren wiederum wurde hier das legendäre Tabarin eröffnet. Wenn Hans Moser das gewusst hätte, der an derselben Adresse 1911 das erste Mal auftrat! Das Tabarin war ein queeres Lokal und ist vor allem deshalb "so etwas Besonderes, weil die lesbische Geschichte im Gegensatz zur Schwulen-Geschichte in Wien praktisch unsichtbar ist", so Lindinger. "Im Tabarin hat man Frauen kennenlernen können, dort ist auch Anita Berber aufgetreten, ein Idol der queeren Community." Erwähnt wird das Tabarin auch im soeben neu aufgelegten Reiseführer Wien – Was nicht im Baedeker steht von Ludwig Hirschfeld aus dem Jahr 1927, der schrieb, "da sitzen in den Logen die schönsten Frauen Wiens", und ein gewisser Unterton erschließt sich wohl erst, wenn man weiß, dass er weiß etc.

Denn grundsätzlich konnten alleinstehende Frauen – so viel zur Wiener Kaffeehausromantik – "nirgendwo hingehen außer in die Kirche oder ins Kaufhaus", so Lindinger, sonst fielen sie unter Sexarbeiterinnenverdacht. Auch Hirschfeld erzählt, dass im Sacher einst Damen, die allein essen wollten, nicht bedient wurden.

Nicht nur bietet er einen höchst vergnüglichen Überblick über das gesellschaftliche Leben im Wien des Jahres 1927, er ist auch in seinen Abgesängen (die alten Kaffeehäuser!) höchst modern. Autor Ludwig Hirschfeld, seine Frau und die beiden Kinder wurden im KZ Auschwitz ermordet. So ist das in Wien, mit den historischen Gleichzeitigkeiten.

(Julia Pühringer, 18.9.2020)