Alles im gelben Bereich: Damit ein Verdachtsfall nicht gleich die halbe Schule lahmlegt, ändert das Gesundheitsressort die Regeln. Angenommen wird, dass Kinder kaum Überträger sind.

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Disclaimer: Während der Entstehung dieses Artikels steht die Schulampel von Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) auf "Gelb". Für Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte heißt es also Maske tragen bis zum Sitzplatz; Turnen in der Halle nur in Kleingruppen; keine Kontaktsportarten; Singen bitte im Freien oder mit Mund-Nasen-Schutz. Händewaschen, Abstand halten und Lüften – all das wird sowieso vorausgesetzt, egal wie die Ampel gerade blinkt. So weit die Theorie.

Wie die Praxis aussieht, haben zahlreiche Eltern sowie Pädagoginnen und Pädagogen dem STANDARD gemailt, oder via User-Forum und Telefonaten beschrieben. Was sie berichten, weicht von den generellen Empfehlungen des Bildungsressorts dann doch oft deutlich ab. Erzählt wird vom Turnen in der Halle trotz strahlendem Sonnenschein. Von beengten Lehrerzimmern, in denen zwar ein Mund-Nasen-Schutz getragen werden sollte, aber: "Man muss in den Pausen auch einmal trinken oder etwas essen", hält eine Lehrkraft an sich Selbstverständliches fest. Ein babyelefantengroßer Abstand geht sich sowieso nur in den wenigsten Klassenzimmern aus.

"Man muss in den Pausen auch einmal trinken oder etwas essen"

Lehrkraft über die Maskenpflicht im Lehrerzimmer

Frau Anonym ist Mutter eines 18-jährigen Sohnes, er besucht eine HTL in Wien. Sie ist verunsichert und nervös. Denn Frau Anonym hat nicht nur einen fast erwachsenen Sohn, sondern auch Eltern im fortgeschrittenen Alter, die als Risikopatienten gelten. Und jetzt muss sie sich entscheiden: das Kind umarmen und damit die Gesundheit anderer Familienmitglieder gefährden? Oder Abstand halten, sogar innerhalb der Kernfamilie? Die letzte Umarmung haben Mutter und Kind abgebrochen. Zurück bleibt ein schales Gefühl. Frau Anonym versteht nicht, warum die Schulen bei "Orange" für die Hauptstadt nicht auch "orange" werden – und der Sohn ins Homeschooling wechseln kann. Stattdessen sitze er mit 30 anderen jungen Menschen jeden Tag bis zu elf Stunden in einem Raum, ohne Maske. Wenn er sich die Hände wäscht, wird er belächelt. Jetzt gibt es einen Verdachtsfall in der Klasse. Und die besorgte Mutter erhält von der Corona-Hotline die Empfehlung, sie möge, wenn ihre Bedenken so groß seien, das Kind doch mit Bauchschmerzen zu Hause lassen.

Andere Eltern wären schon froh, wenn sie bei der Hotline einmal jemanden erreichen würden. Um abzuklären, was zu tun ist, wenn das Kind, dessen Klassenkollege zum Verdachtsfall erklärt wurde, jetzt als "Kontaktperson 1" gilt – und damit meist, aber auch nicht immer zu Hause in Quarantäne muss. Ob das auch für die restlichen Familienmitglieder Isolation bedeutet? Wer sich bei den Vorgaben der Behörden noch auskennen soll? Julia Drazdil-Eder stellt Fragen wie diese auch im Namen zahlreicher anderer Mütter und Väter. In einem offenen Brief an Bildungs- und Gesundheitsminister sowie die zuständigen Stadträte fordert sie gemeinsam mit den Elternvertretern von vier anderen Wiener Schulen eine Art "fast lane" für Schülerinnen und Schüler. Ob das jetzt Schnelltests sind, wie sie erst unlängst vor der Einführungsvorlesung an der Wiener Wirtschaftsuniversität zum Einsatz gekommen sind, oder "eigens eingerichtete Teststraßen für Schulen" – alles, was den "tage- oder teils wochenlang" ungewissen Schwebezustand beendet, ist Frau Drazdil-Eder und ihren Mitstreiterinnen recht. Sie selbst sitzt nach zwei Schulwochen bereits zum zweiten Mal mit einem "K1"-Kind im Homeoffice, Besuche bei Großeltern und Freunden sind vorerst abgesagt. Und sie ist nicht die Einzige, der es so geht.

"Exzessiv" bei Quarantäne

Besser daheim bleiben und auf Nummer sicher gehen, dass man nicht selbst zur weiteren Verbreitung des Virus beiträgt? Oder sorgt hier auch übertriebene Vorsicht für Chaos? Hinter vorgehaltener Hand erzählt man sich im Wiener Rathaus jedenfalls, dass manche Direktorinnen und Direktoren geradezu "exzessiv" ganze Klassen nach Hause schicken würden, sobald ein Verdachtsfall auftritt. Wenn die Gesundheitsbehörde das aber nicht angeordnet hat, wird sich auch nie jemand von der zuständigen MA 15 bei den betroffenen Familien melden.

Was in diesem Zusammenhang wichtig ist: Bildungs- wie Gesundheitsministerium und damit auch die nachgeordneten Behörden fassen die Studienergebnisse, die es im Zusammenhang mit Kindern, Jugendlichen und Corona gibt, im Wesentlichen so zusammen: Ausgegangen wird von einer geringeren "Erkrankungsrate" als bei Erwachsenen. Die meisten Infektionen würden demnach ohne Symptome verlaufen. Allerdings sei die Konzentration der Virus-DNA bei Kindern genauso stark wie bei Erwachsenen. Was aber nicht heiße, dass Kinder auch stärker Überträger an andere Personen sind. Hier bezieht man sich auf eine Studie, der zufolge es innerhalb einer Familie meist umgekehrt war, also wo die Erwachsenen die Kinder angesteckt haben. Wer selbst einen Blick auf die neuesten internationalen Studien wirft, merkt schnell: Ganz gesichert scheint da wenig. Vieles ist in Zusammenhang mit Kindern und Corona noch zu wenig untersucht.

"Die Kontaktpersonen des Verdachtsfalls können bis zur Bestätigung des Tests vorerst weiter die Bildungseinrichtung besuchen."

Empfehlung des Gesundheitsressorts

Die Schlussfolgerungen, die das Gesundheitsressort mit Stand 14. September für Kinder unter zehn Jahren zieht, sehen trotzdem folgende neue Vorgangsweise vor: Kinder unter zehn Jahren müssen auch bei leichten Symptomen "nicht in jedem Fall getestet werden". Sehr wohl soll ein PCR-Test erfolgen, wenn es Kontakt zu einem bestätigten Fall, "insbesondere im gemeinsamen Haushalt", gab. Wer älter als zehn Jahre ist und Symptome hat, soll jedenfalls getestet werden. Was den Rest der Klasse anlangt, wird empfohlen: "Die Kontaktpersonen des Verdachtsfalls können bis zur Bestätigung des Tests vorerst weiter die Bildungseinrichtung besuchen."

Bis dato wird von Fall zu Fall, von Schule zu Schule unterschiedlich verfahren. Frau Drazdil-Eder etwa hat mitten während der Recherche dieses Artikels die nächste Quarantäne-Anordnung für das nächste Kind erhalten. Ein Verdachtsfall im Hort bindet sie (und ihrer Schätzung nach 50 weitere Familien) für die kommenden zehn Tage zu Hause. Dass damit auch der Schulbesuch unmöglich wird, gleichzeitig Distance-Learning aber nicht alleine für die Hort-Kinder eingeführt wird, "hat sich wieder keiner überlegt", ärgert sich die engagierte Mutter.

Warten aufs Krankwerden

Auch bei den Lehrkräften herrscht Verunsicherung: "Fühlen wir uns aktuell in der Schule sicher?", stellt ein "Herr Professor" die rhetorische Frage. Seine Antwort: "Absolut nicht. Wir warten nur darauf, krank zu werden." Eltern wie Lehrkräfte fragen, warum die Klassengrößen nicht reduziert wurden. Warum die Tests so lange dauern. Ob der Heimunterricht schon nächste Woche oder erst später droht. Ab Dienstag wollen Bildungsministerium und Stadt Wien mobile Einsatzteams an Schulen schicken, um mittels Gurgeltests schneller Gewissheit zu haben. (Karin Riss, 19.9.2020)