Zumindest kann man der türkisen ÖVP nicht vorwerfen, keine klaren Worte zu finden – wenn es zum Beispiel um Flüchtlinge aus Moria geht. Da vergisst der Außenminister schon einmal seine diplomatische Erziehung und stellt klar: "Wenn wir das Lager jetzt leeren, ist es gleich wieder gefüllt", sagte Alexander Schallenberg. Und höflich fügte er hinzu, es tue ihm leid, dass das so zynisch klinge. Aber das sei eben der "realistische Pragmatismus" der Regierung Kurz, mit gutem Grund. Denn bei jedem Zwischenfall auf einem Flüchtlingsschiff, in einem Lager fange sofort das "Geschrei um Verteilung" an.

Unterstützung für Schallenberg kam alsbald aus der Steiermark. Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer (ebenfalls ÖVP) bettete die Äußerungen des Außenministers sanft ins christlich-soziale Federbett. Christlich-sozial anständig sei, wer "wirksam" helfe – und das sei die Aufnahme von ein paar Kindern aus Moria eben nicht. Der Bundeskanzler verpasste dem notorisch aufnahmebereiten Deutschland eine kleine Abreibung: "Wir werden dem deutschen Weg nicht folgen." Kurz setzt auf "flexible Solidarität" in der EU-Asylpolitik.

Die rot-grüne Stadtregierung wollte 100 Kinder aus Moria nach Wien holen.
Foto: EPA/DIMITRIS TOSIDIS

Apropos zynisch: Weil die rot-grüne Stadtregierung nicht damit aufhörte, 100 Kinder aus Moria nach Wien holen zu wollen, reagierte Innenminister Karl Nehammer wahlkampfadäquat. Wenn die Bundeshauptstadt schon Flüchtlingskinder wolle, solle sie welche aus dem Lager Traiskirchen holen. Sprach’s und ließ sich bald darauf hemdsärmelig an Bord des Antonow-Großraumflugzeugs fotografieren, mit dem Hilfsgüter nach Griechenland geflogen wurden – und das, wenn man nur gewollt hätte, beim Rückflug Platz für mehrere Hundert Flüchtlinge geboten hätte.

Verantwortungspositionen

Tatsächlich muss man über die unmittelbare, schnelle Wirksamkeit von Zelten, Decken und Sanitäranlagen für tausende Menschen auf Lesbos reden: Warum ist all dies nicht schon vor Jahren geschehen, wieso hat Österreich nicht eher wirksam geholfen?

Man muss aber auch über die Art und Weise reden, wie hier Politiker in Verantwortungspositionen über Menschen sprechen. Wie herablassend und kühl, wie mitleidlos und starr bürokratisch das Gesagte wirkt. Wie gleichzeitig Menschenrechte, internationale Konventionen und Verpflichtungen als humanitäre Fleißaufgabe abgetan werden. Überhaupt Humanismus: Es wird so getan, als wäre er eine Marotte von Träumern.

Der Machtpragmatismus geht weit in der ÖVP. Er umfasst auch rechtsstaatliche Unbequemlichkeiten, etwa wenn es darum geht, einen EU-Förderantrag richtig zu stellen. Finanzminister Gernot Blümel, türkiser Spitzenkandidat in Wien, hat keine Zeit dafür. Wo doch der EU-Kommission klar sein muss, was er meint, wenn er Unternehmern Direkthilfen auszahlen möchte. Eine staatstragende bürgerliche Partei zelebriert hier einen scheinbaren Modernismus, der meint, auf manche Werte, sei es Solidarität, sei es rechtsstaatliche Ordnung, verzichten zu können. Man nennt das dann pragmatisch und flexibel.

Die Grünen brummen nur hie und da missbilligend. Sie merken offenbar nicht, wie sie sich selbst dabei verändern. Die Geschichte von der Verantwortungsethik, die sie in diese Regierung gehen ließ, ist irgendwann zu Ende erzählt – auch für Grün-Wähler. Dann ist es vielleicht schon zu spät – und der politische Diskurs nachhaltig beschädigt. (Petra Stuiber, 18.9.2020)