So nahe kommen sie einander nur im hohen Alter: Maria Köstlinger und Johannes Krisch, reichlich versehen mit pharmazeutischen Requisiten.

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Die endgültig letzte Station auf dem Weg in ein unbeschwertes Alter – ist weiß wie Schnee. Zwei Alte, unschuldig wie einst Philemon und Baucis, reisen gemeinsam durch das Labyrinth ihres Greisenasyls. In den Wiener Kammerspielen, dem Uraufführungsort des neuen Peter-Turrini-Stückes, besitzen die Zimmerwände (Bühne: Florian Etti) ein reges Eigenleben. Man kann sie aufstellen wie die Seiten eines gigantischen Bilderbuchs. Die Tableaux verrutschen aber auch und beengen die beiden Rollstuhlfahrer wie Labormäuse.

Turrini aber, dieser unermüdliche Anwalt aller Erniedrigten und vom Schicksal Benachteiligten, stellt die geläufigen Gesetze der Dramatik noch einmal auf den Kopf. Seine (ein wenig umständlich betitelte) Demenztragödie "Gemeinsam ist Alzheimer schöner" nimmt, den Gesetzen der Alterung gemäß, nicht etwa Fahrt auf, sondern ab.

Ein voralpenländischer Rappelkopf ("Er", Johannes Krisch) rollt mit seinem Lebensmenschen ("Sie", Maria Köstlinger) gemeinsam in den Sonnenuntergang. Die beiden ahnen nur noch dunkel, was es mit ihnen auf sich hat. Aus dem Übertragungslautsprecher der Seniorenresidenz meldet sich gelegentlich Gottvater. Stimmlich gemimt wird er von unsichtbaren Überwachungsbeamten aus dem "Bewohnermanagement". Grundgütig ist der siebensüße erste (Roman Schmelzer); der zweite (Michael Dangl) zieht später die anderen Saiten der herzlosen Gewinnoptimierung auf.

Die Rückblende ist von nun an das Fach, in dem Greis und Greisin brillieren. Siehe da: Helga und Johannes, der Firmenleiter mit psychiatrischem Vorleben, sind bei Bedarf bestens zu Fuß! Sie ersticken einander im ersten Liebessturm mit nimmersatten Küssen, während Paul McCartney via Lautsprecher fragt, warum man es nicht miteinander in der Straße treibe. Zwei Biographien entstehen im Nu; merkwürdig gelenkt wird die ehehygienische Achterbahnfahrt durch den "realzeitlichen" Verfall der beiden im Asyl.

Liberalisierung im Spiegel

Ein echtes Heimspiel: Aus einfachsten Requisiten (Klopapier) bastelt man den Brautschleier. Die Geschichte einer umfassenden gesellschaftlichen Liberalisierung wird im privaterotischen Zerrspiegel reflektiert. "Er" entpuppt sich nicht nur als linker Maulheld, der in die Riege der vermögenden Papierfabrikanten überwechselt. Krisch kann mit seinen Feueraugen Wände durchbohren, und er besitzt den schwadronierenden Überschwang einer Ferdinand-Raimund-Figur. In der Auseinandersetzung mit dem Enkel (Moritz Hammer) verkörpert dieser Berggeist das Gewicht von tausend Jahren! Und ist sich anschließend doch nicht zu gut, voller Feuereifer mit den Matchboxautos seines Kindeskindes zu spielen.

"Sie" setzt seinem Egoismus viel stillen Trotz entgegen: Köstlinger ist die Rolle des Hutzelweibchens nicht eben auf den Leib geschnitten. Aber sie mobilisiert gleichermaßen die Waffen stiller Renitenz und lauten Aufbegehrens. Den Blumen ihres Kleides setzt sie mit der Schere zu. Die Ehekriegsscharmützel zum langen Abschied atmen die vergiftete Atmosphäre von Strindbergs "Totentanz". Regisseur Alexander Kubelka hat die Ausübung des Kriegshandwerks im Ehestand gleich mitberücksichtigt, von Ibsen bis Fosse reicht die atmosphärische Palette. Wobei der Satiriker Turrini sich nicht scheut, den Privatanbau von Tomaten zum Gipfel esoterischer Verworfenheit zu erklären!

Gnade des Vergessens

Zu sich selbst gelangen Turrini-Figuren freilich nur dann, wenn sie mitten im Verschwinden zu Geschöpfen von ungeahntem Eigensinn erblühen. So auch hier, in einem dramatischen Postskriptum von (auch darstellerisch) hohem Reiz: Zwei Entliebte finden durch die Gnade des Vergessens wieder zärtlich zueinander.

Darin liegt, wie so häufig bei Turrini, ein winzig kleiner Kern gelebter Unmöglichkeit. Um derentwillen muss man diese Aufführung selbstverständlich lieben – und darf sie keinesfalls vergessen! (Ronald Pohl, 20.9.2020)