Bill Gates ist Ziel zahlreicher Verschwörungstheorien rund um Covid-19 (hier bei Demos in Polen), über die Conspiracy Watch aufklären will.

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"Wir bewirken eine irrsinnige Feindseligkeit", sagt CW-Gründer Reichstadt.

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Im April hatte die Schweizer Youtuberin Ema Krusi ihrem Millionenpublikum Wichtiges zu berichten: Microsoft-Gründer Bill Gates werde in den USA der Covid-Manipulationen, gar Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschuldigt. "Die Leute müssen das wissen", fuhr die Genfer Schuhdesignerin fort. "Ich bin nicht Journalistin, aber ich ergreife das Wort. Warum? Weil mich Bill Gates nicht finanziert."

Conspiracy Watch (CW) reagierte: "Falsch", schrieb die private Beobachtungsstelle im Thread, wobei sie bedeutend weniger Klicks erntete.

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"Die Maskengegnerin reichte einfach Behauptungen des amerikanischen Verschwörungsnetzes Qanon weiter", erklärt CW-Vorsteher Rudy Reichstadt heute. Der 39-jährige Franzose sitzt in seinem kargen Büro, das im Wesentlichen aus zwei Tischen und einem Berg leerer Kartons besteht. Die genaue Adresse im Pariser Bastille-Viertel will er nicht angeben, nachdem er schon sehr aggressiven Besuch von Rechtsextremen bekommen hat. "Wir bewirken eine irrsinnige Feindseligkeit", stellt Reichstadt nüchtern fest.

Widerspruch als Legitimität

Ein Grund ist sicher, dass CW den Verschwörungstheoretikern so genau auf die Finger schaut. Mit einer Historikerin und zwei freien Mitarbeitern verfolgt Reichstadt diese Tag für Tag. Auf lange Internetdebatten und Videoauftritte lässt er sich aber nicht ein. "Genau das wollen die Verschwörungstheoretiker. Sie wollen sich eine Legitimität verschaffen – notfalls auch durch Widerspruch", weiß der ehemalige Politikstudent aus jahrelanger Erfahrung.

Begonnen hatte er seine Arbeit nach den 9/11-Attacken im Jahr 2001. Damals fuhr ein Freund von ihm – "ein überlegter, gemäßigter Geschichtsstudent aus Paris, Mitglied der sozialdemokratischen Partei" – auf die Verschwörungstheorie des Franzosen Thierry Meyssan ab, der behauptete, es sei kein Flugzeug in das Pentagon geflogen. Reichstadt ging der Sache nach, entdeckte eine ganze Parallelwelt aus Lug und Trug, Fantasie und Paranoia. 2007 gründete er Conspiracy Watch.

Kampfsport gegen Rassismus

Heute versteht er seine Mission nicht mehr als bloße Aufklärung, sondern – in Anlehnung an ein Bonmot des Soziologen Pierre Bourdieu – als "Kampfsport". Der Kampf gegen Verschwörungsapologeten sei letztlich ein Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus und Revisionismus. "Und das", so Reichstadt, "ist nicht in erster Linie eine Frage der Pathologie, sondern der Politik."

Wen wundert’s: Die Webseite von Conspiracy Watch, die auf monatlich 100.000 bis 200.000 Klicks kommt, wird heute selber als Teil einer Weltverschwörung hingestellt. Ihr Gründer lacht: "Wir galten schon als Handlanger der Rothschilds, des CIA oder von George Soros." Das auch, weil die Pariser Shoah-Gedenkstiftung die Beobachtungsstelle subventioniert; daneben lebt die Webseite von Kleinspenden. Was wiederum nicht zu verwundern vermag: Juden leiden am meisten unter der "complosphère", wie man in Frankreich die Komplottszene nennt. Die Kinderfresser von einst sind heute die "pädosatanistischen Demokraten". Davon faselt jedenfalls Qanon, ein Machwerk aus der Trump-Sphäre, das Reichtstadt als "brandgefährlich" einstuft.

Widersprüche in sich

Dabei sind die Thesen des anonymen Q ein Widerspruch in sich: Er inszeniere den Machthaber Trump als Oppositionellen, ja Verfolgten jenes "deep state" (tiefen Staates), dem er in Wahrheit selber vorstehe, erklärt Reichstadt. Den Verschwörungstheoretikern sei es egal, sich zu widersprechen. Nach der Enthauptung des Journalisten James Foley im Jahr 2014 habe es geheißen, das Video müsse gefälscht sein, denn dieser CIA-Agent sei schon vorher tot gewesen; nach erfolgtem Gegenbeweis hieß es, er lebe immer noch.

"Wichtig ist den Verschwörungstheoretikern nicht das Faktum, sondern allein die Botschaft: Man belügt euch!", sagt der CW-Leiter. Auf der Webseite zeigt er unermüdlich, wer wirklich lügt: die Verschwörungserfinder. CW dreht ein weiteres Dauerargument um, nämlich die konspirative Frage "Wem nützt das Verbrechen?". Reichstadt: "Wir belegen mit Fakten, dass sich nicht etwa eine neue Weltelite den Planeten untertan macht, sondern dass diese Theorien oft von Diktaturen und autokratischen Regimen ausgehen und von geltungssüchtigen Komplotteuren weiterverbreitet werden."

Der Komplottexperte Emmanuel Kreis wirft CW vor, parteiisch zu sein: Die Regime in Russland, China oder Venezuela – oder auch der französische Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon – würden viel häufiger angeprangert als etwa USA oder Israel. Reichstadt kontert mit Fakten: "Wir nehmen auch Komplottargumente von Trump oder der Netanjahu-Familie auseinander."

Bis zu 25 Prozent betroffen

Insgesamt hält der CW-Vorsteher Franzosen für ähnlich komplottanfällig wie Engländer, Spanier oder Amerikaner. Beim Brand der Notre-Dame-Kathedrale in Paris seien schon während des Brandes die ersten Fake-News aufgetaucht. Ein halbes Jahr später habe ein Rechtsextremist die Moschee von Bayonne attackiert, "um Notre Dame zu rächen", wie er sagte; denn er wollte gelesen haben, die Brandstifter seien Muslime gewesen.

Wie das Pariser Umfrageinstitut Ifop im Auftrag der Jean-Jaurès-Stiftung und von Conspiracy Watch jährlich eruiert, glaubt bis zu einem Viertel der Franzosen an Verschwörungstheorien. Dieser Anteil blieb in den letzten drei Jahren zumindest bis zur Corona-Krise ebenso stabil wie hoch, nachdem er nach dem Aufkommen des Internets schon jahrelang zugenommen hatte. Nicht zuletzt dank sozialer Medien glauben heute immerhin neun Prozent der Franzosen, dass die Erde eine Scheibe sei. "Es bleibt viel Arbeit", seufzt Reichstadt. "Sisyphusarbeit." (Stefan Brändle aus Paris, 21.9.2020)