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In 2016 hatte Lindsey Graham noch dafür plädiert, die Nachfolge eines Höchstrichters erst durch einen neuen Präsidenten regeln zu lassen.

Foto: AP / Erin Schaff

Was Jupiter darf, darf der Ochse noch lange nicht. Der Spruch kommt einem in den Sinn, wenn man hört, was republikanische Senatoren zur Causa Ruth Bader Ginsburg zu sagen haben, genauer: zu der Frage, wer den Platz der verstorbenen Verfassungsrichterin einnehmen soll. Und vor allem, wann. Ob vor oder nach dem Urnengang im November.

2016 lagen die Dinge ähnlich, nur dass damals keine linksliberale Veteranin des Supreme Court das Zeitliche segnete, sondern ein Konservativer, Antonin Scalia – knapp neun Monate vor dem Votum. Im Jahr einer Präsidentschaftswahl, warnte seinerzeit Lindsey Graham, einer der Wortgewaltigsten der Senatskammer, sei es grundsätzlich keine gute Idee, die Nachfolge zu regeln. Die Personalie sei so wichtig, dass man sie besser dem neuen Präsidenten überlasse. "Ich will, dass sie meine Worte gegen mich verwenden", sagte der Südstaatler aus South Carolina. Auch wenn der nächste Staatschef ein Republikaner sei: Falls wieder ein Höchstrichter in einem Wahljahr sterben sollte, könne man sich ruhig darauf berufen, dass er, Lindsey Graham, dafür plädiert habe, die Nachfolge erst nach der Wahl zu regeln.

Demokraten fehlen Stimmen

Jetzt, da genau das eingetreten ist, worüber er philosophierte, will der Senator nichts mehr davon wissen. Die Demokraten, begründet er seinen Sinneswandel, hätten schließlich versucht, durch unerhörte Attacken das Leben des Supreme-Court-Kandidaten Brett Kavanaugh zu zerstören. Deshalb bräuchten sich nun auch die Republikaner nicht mehr an irgendein Gentleman Agreement halten. Beobachtet man Graham bei seinen verbalen Verrenkungen, bekommt man eine Ahnung davon, warum es Donald Trump gelang, aus der einst so stolzen "Grand Old Party" binnen kürzester Zeit eine Trump-Partei zu machen. Skrupel sind dort nicht gerade en vogue.

So haben die meisten Republikaner von Rang dem Präsidenten denn auch applaudiert, als er nach Ginsburgs Tod aufs Tempo drückte und ankündigte, noch diese Woche Ersatz benennen zu wollen. Mitch McConnell, ihr Senatsfraktionschef, verspricht exakt das, was er 2016 noch als Ding der Unmöglichkeit bezeichnet hatte. Nämlich schnellstmöglich das Bestätigungsverfahren für die Nominierte zu organisieren (dass es eine Frau sein wird, hat Trump bereits klargestellt). Joe Biden, dessen Partei die nötigen Stimmen fehlen, um die Abstimmung aus eigener Kraft zu verhindern, bleibt nichts anderes übrig, als schwankende Konservative zur Rebellion zu ermuntern. Und an den Anstand von Leuten zu appellieren, denen nicht wohl dabei ist, wenn die Regeln, die 2016 noch galten, 2020 mir nichts, dir nichts außer Kraft gesetzt werden.

Hoffen auf Romney

Letzteres hat der Mann, der selber 36 Jahre im Senat saß, am Sonntagabend in Philadelphia getan. "Bitte folgen Sie Ihrem Gewissen", mahnte Biden. "Pauken Sie niemanden im Schnellverfahren durch, das wäre ein Missbrauch Ihrer Macht." Chuck Schumer, im Senat die Nummer eins der Demokraten, fuhr schwereres Geschütz auf, indem er ein wenig kryptisch erklärte, dass es nichts gebe, was nicht auf dem Tisch liege, falls der politische Gegner jetzt gegen alle Gebote der Fairness seinen Willen durchsetze. Insider haben es so übersetzt: Falls Biden Präsident wird und die Republikaner ihre Senatsmehrheit verlieren, steht eine Aufstockung der Richterzahl am Obersten Gerichtshof zur Debatte. Von neun auf womöglich zwölf, womit der vorübergehende Vorteil der Konservativen wieder kassiert wäre. Nur: In den 1930er-Jahren musste Franklin Delano Roosevelt, dem bis zu 15 Höchstrichter vorschwebten, die Erfahrung machen, dass so eine Aufstockung alles andere als ein Kinderspiel ist. Er erlitt Schiffbruch mit dem Projekt, obwohl ihm sonst so vieles gelang.

Weil wir von den potenziell Anständigen sprachen: Die Opposition wartet voller Spannung darauf, wie Mitt Romney, 2012 Kandidat fürs Weiße Haus, die Sache sieht. Immerhin war er der einzige republikanische Senator, der den Mut hatte, für die Amtsenthebung Trumps zu plädieren. Verbündet sich Romney mit den Demokraten, sind es schon drei Abtrünnige. Zwei seiner Kolleginnen, Susan Collins und Lisa Murkowski, haben bereits explizit einen Aufschub bis nach der Wahl verlangt. Ein Trio der Renegaten, das reicht jedoch nicht, denn in dem Fall könnte sich der Präsident noch immer auf 50 Parteifreunde stützen. Und dann, bei einem Remis im Senat, wäre es an Mike Pence, Trumps Stellvertreter, das Patt mit seiner Stimme aufzulösen. Worauf das hinausliefe, zumindest darüber braucht man nicht lange zu rätseln. (Frank Herrmann, 21.9.2020)