Mehr als 150 Jahre nach dem Krieg zwischen den Nord- und Südstaaten (1861–1865) geht das Gespenst des Bürgerkriegs in den Auseinandersetzungen vor der amerikanischen Präsidentenwahl am 3. November um. Als Freunde aus Kalifornien vor Monaten in langen Gesprächen via Skype ihre Furcht vor bewaffneten Zusammenstößen während oder nach der Präsidentenwahl erkennen ließen, dachte ich zuerst an verständliche, aber übertriebene Reaktionen auf die Folgen der Pandemie, der Waldbrände und der Ausschreitungen nach der Ermordung von Afroamerikanern durch die Polizei. Inzwischen beschäftigen sich amerikanische Wissenschafter und Journalisten immer mehr mit düsteren Szenarien im Falle von Uneinigkeit über das Wahlresultat und dessen Gültigkeit in umkämpften Staaten.

Demonstranten vor dem United States Capitol in Washington, DC.
Foto: AFP/ALEX EDELMAN

Besondere Aufmerksamkeit erregte eine am Donnerstag veröffentlichte Warnung des angesehenen früheren republikanischen Senators und Koordinators der amerikanischen Geheimdienste von 2017 bis 2019, Dan Coats, in der "New York Times". Es gehe nicht darum, wer gewinne, schreibt Coats, sondern auch darum, "ob das amerikanische demokratische Experiment, eine der kühnsten politischen Innovationen in der Menschheitsgeschichte, überleben" werde. Er fordert sogar die beiden großen Parteien auf, eine überparteiliche Kommission zu bilden. Diese sollte die Integrität des Wahlprozesses garantieren und sichern, dass jede Stimme zähle.

Frommer Wunsch

Dass es sich um einen frommen Wunsch handeln dürfte, zeigt der voll entbrannte Streit bereits zwei Stunden nach dem Tod der verstorbenen linksliberalen Obersten Richterin Ruth Bader Ginsburg um den Zeitpunkt der Abstimmung des Senats über einen Kandidaten für die freie Position im Obersten Gerichtshof. Präsident Trump und der republikanische Mehrheitsführer drängen auf eine schnelle Entscheidung durch den derzeitigen Senat mit republikanischer Mehrheit. Es ist durchaus möglich, dass (wie im Jahr 2000 in Florida) dieses höchste Gericht diesmal in mehreren umkämpften Staaten durch ein Urteil die wegen der Pandemie und der Briefwahl verlängerte Stimmenzählung beenden und letzten Endes womöglich sogar über die zweite Amtszeit Trumps entscheiden könnte.

Die Furcht vor unberechenbaren Zusammenstößen in der Periode zwischen der Wahl und dem Ende der Amtszeit des Präsidenten am 20. Januar nährt auch die Sorgen im Hinblick auf einen neuen Bürgerkrieg. Die Radikalisierung der auf 15.000 bis 20.000 geschätzten, schwer bewaffneten rechtsextremen Weißen in etwa 300 aktiven Milizen und junger Afroamerikaner stellt die größte Gefahr dar. Die weißen Milizen mobilisieren, ermuntert durch die Twitter-Attacken Trumps gegen die staatlichen Covid-19-Maßnahmen, die von demokratischen Gouverneuren angeordnet wurden, und als Reaktion auf die oft gewaltsamen Proteste der Schwarzen nach der Ermordung von Afroamerikanern durch die Polizei.

Infolge der rechten Verschwörungsideologie glauben 34 Prozent der republikanischen Wähler, dass "Eliten" den Ausbruch der Corona-Epidemie geplant hätten. Und im Weißen Haus sitzt ein Freund der militanten Rechten. Ob die verwundbare amerikanische Demokratie den Frontalangriff von rechts überleben wird, muss dahingestellt bleiben. (Paul Lendvai, 22.9.2020)