Dubravka Šuica: Die EU-Kommissarin für Demokratie und frühere Bürgermeisterin von Dubrovnik will EU-Bürger stärker einbinden.

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Vergangene Woche hätte Dubravka Šuica in Wien an Treffen für die geplante "Konferenz zur Zukunft Europas" teilnehmen sollen. Aber die EU-Kommissarin konnte nicht anreisen, nahm per Videoschaltung teil, wegen der Pandemiemaßnahmen. Nicht nur das zeige, wie sehr Corona unsere Welt auf den Kopf stelle, sagt sie im Standard-Gespräch.

Šuica ist in Brüssel zuständig für die Bereiche "Demokratie und Demografie", hat als Vizepräsidentin eine ressortübergreifende Koordinierungsverantwortung. Das klingt abstrakt, ist aus ihrer Sicht eher das Gegenteil: "Bei beiden Themen geht es um lebensnahe Probleme von Bürgern, die sich zurückgelassen fühlen." Das sei eng verbunden.

Demografen beschreiben den tiefen Wandel der Bevölkerungsstruktur, der Lebens- und Arbeitsweisen. In der EU heißt das: stark steigendes Lebensalter, aber eine deutlich gesunkene Geburtenrate. Es gab bisher einen starken Trend der Landflucht in die Städte, von Osteuropa nach Westeuropa. Die ländlichen Regionen trocknen infrastrukturell und wirtschaftlich aus.

Zulauf für Populisten

"Menschen beginnen dann, die Demokratie zu beschuldigen, obwohl nicht sie es ist, die für den rasanten Wandel und den sozialen Abstieg verantwortlich ist", sagt Šuica. Populisten und radikale politische Gruppen gewännen an Zulauf. Das alles sei "der Grund, warum es hoch an der Zeit ist, sich mit diesen Zusammenhängen, mit der Zukunft der EU intensiv zu befassen. Die demografischen und gesellschaftlichen Veränderungen sind definitiv eine Herausforderung für die Demokratie" – also für die EU.

Bei der Reformkonferenz, die im Herbst beginnen und möglicherweise zu einem erneuerten EU-Vertrag führen wird, ist die Vizepräsidentin für die Einbindung der Bürger, der Zivilgesellschaft, der NGOs, vor allem der jungen Menschen zuständig. Sie will das – Folge von Corona – durch alle neuen Formen der digitalen Kommunikation, die zuletzt einen Schub bekommen haben, tun.

Paradoxerweise würden durch die Pandemie diesbezüglich neue Chancen eröffnet, meint die Kroatin, früher Bürgermeisterin in Dubrovnik. Per Videokonferenz könnten Bürger direkter, schneller mitreden, "aus jedem Winkel der Union. Sie wollen involviert werden."

Ländliche Räume fördern

Corona-bedingt werde es in gewisser Weise leichter, die zwei großen politischen EU-Prioritäten – Digitalisierung und Maßnahmen gegen den Klimawandel – rascher umzusetzen. Dabei werde immer deutlicher, dass man das eng mit dem demografischen Wandel verknüpfen müsse. Ländliche Regionen müssten wieder aufgewertet, der Wegfall an Arbeitskräften durch Nachwuchsmangel kompensiert werden, "während wir länger und mit mehr Lebensqualität leben. Wer sorgt für nachhaltige Pensionsfonds? Wie sorgt man für lebenslange Gesundheitsversorgung, Betreuung?"

Das seien entscheidende Fragen, wenn Europa seinen Wohlstand erhalten wolle. Die Antworten darauf seien komplex, ein Bündel an Maßnahmen, "nicht nur neue Technologien oder künstliche Intelligenz, mehr Kinder oder ein höheres Pensionsalter".

Die Kommissarin: "Ein Teil der Lösung ist auch die legale Zuwanderung." Šuica bestätigt, dass die Kommission am Mittwoch "ein neues Asyl- und Migrationspaket vorschlagen wird, eines der wichtigsten Dokumente für die nächsten Jahre". Da die Mitgliedsländer sich seit 2015 nicht auf eine Solidaritätsklausel einigen konnten, werde die Kommission Anlauf nehmen: "Wir werden die Dublin-Regeln beiseitelegen und versuchen, die Dinge auf Basis der Solidarität aufzubauen."

Flexible Solidarität

Ziel sei eine "klare Strategie" der Abgrenzung von Asylpolitik und Migrationspolitik: "Die, die legal da sind, können bleiben. Die die illegal da sind, müssen gehen", sagt Šuica, "das ist unsere Politik, das muss allen klar sein, wenn man Teil dieses angesehenen Klubs der Europäischen Union sein will." Auf Details, wie die Verteilung von Asylwerbern auf die EU-Staaten konkret aussehen soll, will sie nicht eingehen.

Aus Ratsquellen heißt es, der neue Vorschlag zum Asylpaket soll keine verpflichtenden Verteilungsquoten für die Staaten enthalten, wie viele Asylwerber sie aufnehmen müssen. Solche Quoten hatten 2015 die Spaltung, die Trennung zwischen Ost und West angefeuert.

Präsidentin Ursula von der Leyen will eine Idee aufgreifen, die es 2018 unter bulgarischem und österreichischem EU-Vorsitz bereits gab: Bei der Verteilung der Asylwerber auf EU-Gebiet soll das Prinzip der "flexiblen Solidarität" gelten, wie dem Standard bestätigt wird: Staaten, die weniger Flüchtlinge aufnehmen wollen als andere, müssten "Ersatzleistungen" für die Gemeinschaft erbringen – sei es, dass sie mehr Geld in die gemeinsamen Töpfe einzahlen, sei es, dass sie bei Rückführungen mehr Verantwortung übernehmen. Aufgegriffen wird ein Plan von 2017, an EU-Außengrenzen "Aufnahmezentren" zu errichten, wo man Asylanträge stellen kann, um illegale Zuwanderung zu stoppen. (Thomas Mayer aus Brüssel, 22.9.2020)