Natürlich habe ich mir dieses Jahr auch anders vorgestellt. Wettkampftechnisch sowieso. Und speziell dieser Herbst hätte … Und so weiter. Aber wissen Sie was? Wenn in einer Zeit, in der die Angst oder die Panik vor der Pandemie Gesellschaft und Wirtschaft an und über die Klippe treibt, meine größte persönliche Sorge jene ist, ob und wann ich in Barcelona beim Ironman, in Eilat beim Wüstenmarathon, in London, Graz oder Klein-Hintertupfing starten kann, geht es mir eigentlich ziemlich gut: Andere Menschen haben echte Probleme.

Klar, niemand lebt im Vergleich. Und es nervt natürlich, Startplätze zu checken und zu zahlen, Reise- und Urlaubspläne zu koordinieren, sich vorzubereiten und zu freuen – und dann gerade mal über die Donauinsel zu joggen. No na.

Nur: Siehe oben. Andere Menschen haben echte Probleme. Das nur vorweg.

Foto: thomas rottenberg

Deshalb – und auch das vorweg – hielt sich meine Empörung auch in sehr engen Grenzen, als vergangene Woche die Mail von Wolfgang Konrad, Günther Wehr und Andreas Maier in meiner Box aufpoppte: Der VCM, schrieben die drei Köpfe des Vienna City Marathons darin, werde verlegt. Vom Frühjahr 2021 in den Herbst, auf den 12. September. Die Gründe sind wenig überraschend: dass man im September einen 40.000-LäuferInnen-Bewerb sicher abhalten könne, ist nachvollziehbar wahrscheinlicher als der "klassische" Termin im Frühjahr. Und (aber das stand nur zwischen den Zeilen) eine zweite Absage in Folge wäre wirtschaftlich wohl nur sehr schwer zu derblasen.

Also: Herbst.

Foto: thomas rottenberg

Ich stellte die Mail in ein paar "meiner" Laufgruppen. Kommentarlos. Und war umgehend überrascht: In dieser meiner Blase dürfte ich einer der wenigen sein, die die Absage nicht als gegen sich persönlich gerichteten Anschlag auf die sportlichen Ambitionen und die Wettbewerbsplanung sahen: Es dauerte keine drei Minuten, bis da heftig geschimpft und gesudert wurde: Wachaumarathon, Graz, Bodensee, Amsterdam, Berlin, Podersdorf … 1.000 Herbst-Events, die jetzt zu nah am großen Wiener Lauf lägen, wurden da aufgezählt.

Das Fazit: Böser VCM, die machen mir mein Laufjahr kaputt.

Ich habe, das ist bekannt, einiges am Wiener Stadtmarathon auszusetzen. Auch die Kritik an der Art, wie Absage, Um- und Abmeldemodalitäten und Refundierungen heuer abgewickelt wurden, teile ich großteils.

Foto: thomas rottenberg

Aber dass ein Veranstalter von einem sehr unsicheren Termin im Frühjahr auf einen nicht ganz so wackeligen im Herbst switcht, kann ich nachvollziehen. Grundsätzlich. Wobei sich beim zweiten Hinschauen schon die Frage stellt, ob man so etwas nicht auch anders, kollegialer, umsetzen kann.

Doch bevor ich genau das Michael Buchleitner, den Veranstalter des nun nur eine Woche nach dem VCM stattfindenden Wachau-Marathons fragte, schickte ich ein paar Fragen an die Macher des VCM – die auch umgehend und ausführlich beantwortet wurden.

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Der VCM wurde Corona-bedingt in den September verlegt. Wieso?

Die Covid-19-Situation ist nach wie vor unübersichtlich. Niemand kann sagen, ob, in welcher Dimension und mit welchen Regeln im Frühling ein Marathon stattfinden darf. Wir brauchen aber Klarheit, unter welchen Rahmenbedingungen wir diesen großen Event organisieren können. Wir sind überzeugt, im September 2021 eine bessere Gesamtsituation vorzufinden und einen großen Marathon in Wien veranstalten zu können. Wir wollen einen Event durchführen, der ein mitreißendes Erlebnis bietet und die Teilnehmer und Zuschauer begeistert, wie wir es aus 2019 und den Jahren davor kennen. Die Verlegung ist die Antwort auf eine schwierige Situation und bringt mehr Verlässlichkeit und Planungssicherheit.

Ist die Entscheidung leicht gefallen? Was sprach dafür, was dagegen?

Die entscheidende Frage war: Ist ein April-Termin 2021 realistisch, ja oder nein? Es geht hier immer um Wahrscheinlichkeiten, niemand weiß, was passieren wird. Aber Fachleute, die sagen: 'Macht euch keine Sorgen, im April ist alles okay', die haben wir nicht gefunden. Insofern war die Entscheidung einfach. Eine Terminverlegung bringt Neuerungen für alle, die mit dem VCM verbunden sind. Darum wollten wir auch so früh wie möglich darüber informieren. 'Augen zu und durch' Richtung April wäre keine Alternative gewesen.

(Anmerkung: Im Bild von 2019 ist das VCM-Team Wolfgang Konrad, Gerhard Wehr und Andreas Maier zu sehen – die Fragen, erklärt VCM-Sprecher Maier, seien aber von Wehr und ihm zu zweit beantwortet worden.)

Foto: thomas rottenberg

Was hat diese Verlegung für sportliche, was für wirtschaftliche Auswirkungen? Hätte der VCM eine Corona-bedingte Frühjahrsabsage 2021 wirtschaftlich überlebt?

Die Verlegung bringt Sicherheit und Klarheit. Das ist fürs Training genauso wie für Organisation und Sponsoren wichtig. Zwei Jahre ohne Haupt-Event wären für jeden Veranstalter sehr schwierig. Sportlich kann man mit einem Augenzwinkern sagen, dass jetzt ein volles Jahr Zeit zur Vorbereitung ist. Für Spitzenläufer fällt im September leider die Möglichkeit zur Olympiaqualifikation beim VCM weg – wobei natürlich niemand sagen kann, ob die Spiele in Tokio 2021 tatsächlich stattfinden werden.

Generell wäre wichtig, dass Laufveranstaltungen nicht als gefährlich betrachtet werden. Dann könnten mit entsprechenden Konzepten die zugelassenen Teilnehmerzahlen wieder steigen. Laufveranstaltungen an sich stellen offenbar kein Problem für das Infektionsgeschehen dar. Es haben in Österreich viele kleine Läufe und Triathlons in den letzten Monaten stattgefunden. Man hat von keinem Cluster gehört, der darauf zurückzuführen wäre. Das ist kein Aufruf zum leichtfertigen Umgang. Jeder trägt Verantwortung für die Gesamtsituation.

Wir hoffen, dass die Entscheidungsträger die Regeln für Veranstaltungen differenzierter festlegen werden als bisher, sodass schrittweise die Laufveranstaltungen wieder größer werden können.

Foto: thomas rottenberg

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Was bedeutet das für die klassischen VCM-Begleitveranstaltungen, etwa die Winterlaufserie?

Wir wollen auch in dieser Saison eine VCM-Winterlaufserie organisieren, um zu motivieren. Ein Rennen ist die stärkste Motivation fürs Training. Unser Ziel ist, so gut es geht Läufe durchführen, so wie wir es in diesem Sommer mit den VCM-Pop-up-Runs gemacht haben. Dafür schlägt unser Herz, und das macht einfach Spaß.

Unser nächster Lauf soll am 12. Oktober stattfinden, dem ersten Jahrestag von Eliud Kipchoges 1:59-Marathon. An diesem Tag wollen wir auf der Prater-Hauptallee ein spezielles Rennen durchführen – abhängig natürlich von den Entwicklungen.

Werden alle Anmeldungen, die von 2020 auf 2021 transferiert wurden, jetzt automatisch auf den Herbst gelegt?

Alle Läuferinnen und Läufer, die für den VCM 2020 angemeldet waren und ihren Startplatz auf 2021 übertragen haben, werden eine Info bekommen, mit der sie ihre Anmeldung fix bestätigen können. Allenfalls ist auch ein Übertrag auf 2022 oder die Ausstellung eines Gutscheins möglich. An diesem Ablauf ändert sich mit dem neuen Termin nichts.

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September und Oktober sind traditionell stark besetzte Wettkampfzeiten – es ist über Jahre etabliert, wer im Frühjahr und wer im Herbst veranstaltet. Gab es Kontakte oder Gespräche mit anderen Veranstaltern, um Kollisionen möglichst zu vermeiden?

Wir sind mit mehreren Veranstaltern im Austausch. Alle haben in den letzten Monaten erfahren müssen, dass sich Dinge unglaublich schnell ändern können und nichts in Stein gemeißelt ist. Der 12. September ist kein traditioneller Termin für einen anderen großen Lauf in Österreich. Innerhalb von Wien müssen wir bei der Terminfindung auf die Bedürfnisse und Verfügbarkeiten einer Großstadt Rücksicht nehmen. Wir können nicht an jedem beliebigen Wochenende einen Marathon organisieren, der die zentralen Straßen und Plätze zur Laufbühne macht. Wien ist eine Event-Stadt, und es gibt neben Laufveranstaltungen auch noch eine Vielzahl anderer Veranstaltungen, die nun in den Herbst 2021 drängen. Die Terminfindung für einen Marathon in Wien ist also kein Wunschkonzert. Wir sind von den Verfügbarkeiten der Stadt Wien abhängig.

Dazu gehört in erster Linie der Rathausplatz, die Verfügbarkeit einer Messehalle und die wohl wichtigste Verfügbarkeit – jene einer 42 Kilometer langen Strecke. Wien ist ständig in Bewegung, und alle großen Straßenbaumaßnahmen müssen berücksichtigt werden, auch der U-Bahn-Bau und die entsprechenden Bauphasen sind entscheidende Faktoren. Der 12. September war der einzige Termin, der mit der Stadt gemeinsam erarbeitet werden konnte. Normalerweise hat die VCM-Terminplanung eine Vorlaufzeit von fünf Jahren, was bedeutet, dass wir unsere Planungstermine für den VCM eigentlich schon bis ins Jahr 2025 koordiniert hatten.

Voraussichtlich werden mehr Läufe als gewohnt im Herbst 2021 stattfinden, weil in Österreich und international wohl noch weitere Marathons in den Herbst verlegt werden. Aber auch bisher gab es im Frühjahr und im Herbst an vielen Wochenenden mehrere Läufe und Triathlons, auch Marathons an aufeinanderfolgenden Wochenenden. Alle konnten gut leben damit. Die Laufszene und das Bedürfnis nach Events sind groß. Bei unseren Pop-up-Runs erzählen uns Teilnehmer, dass sie während des Lockdowns im Frühling zu laufen begonnen haben und sie nun bei Bewerben mitmachen wollen.

Entscheidend ist, dass die Laufveranstalterszene wieder auf die Beine kommt und Events wieder durchgeführt werden können. Wir sind überzeugt, dass für viele Lauf-Events Platz ist und dass die Vorfreude auf Laufveranstaltungen, bei denen man gemeinsam laufen und feiern kann, groß ist.

Foto: VCM-Archiv

Wie groß ist die Schnittmenge derer, die nun ihre Herbstwettkampfplanung umschmeißen müssen, tatsächlich? Gibt es Zahlen?

Das können wir nur aus dem Bauch heraus beantworten. Wir kennen keine Zahlen. Überwiegend haben Hobbyläuferinnen und Hobbyläufer wohl ein oder zwei große Ziele im Jahr und nehmen nicht Woche für Woche an Bewerben teil – obwohl es diese Gruppe gibt. Praktisch alle Ausdauer-Events bieten verschiedene Distanzen an, von fünf Kilometern bis zum Marathon, ebenso im Triathlon. HobbyathletInnen, die gerne und häufig an Veranstaltungen teilnehmen, können so auch bei einem vollen Kalender ein vernünftiges Wettkampfprogramm zusammenstellen. In der momentanen Ausnahmesituation müssen wir alle, Teilnehmer und Veranstalter in gleichem Maße, mit neuen Situationen umgehen, die durch Corona entstanden sind.

Wird es eine VCM-Sommerlaufserie geben?

Unter welchem Namen auch immer – aber auf jeden Fall wollen wir Läufe und Trainings anbieten, die zum VCM im September 2021 hinführen. Auch der 18. April 2021, der ursprüngliche VCM-Termin, könnte ein guter Tag für einen Lauf sein, abhängig von den Bedingungen, die dann gelten.

Gibt es schon Namen von Spitzenläuferinnen und -läufern, die im September in Wien antreten könnten?

Eliud Kipchoge – träumen wird man ja dürfen. Im Ernst, es ist noch viel zu früh, um dazu Aussagen zu treffen.

Foto: thomas rottenberg

So weit die VCM-Macher. Für mich nachvollziehbar – aus ihrer Sicht. Aber es gibt eben auch die andere Position: Wer traditionell im Herbst laufen lässt, hat mit dem VCM nun plötzlich einen fetten Nachbarn vor die Nase gesetzt bekommen. Und das trifft natürlich viele hart. Am härtesten wohl den Wachau-Marathon. Bei Michael Buchleitners "Klassiker" reisen nämlich fast 60 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Wien an. Die Schnittmenge mit VCM-Läuferinnen und -läufern dürfte also groß sein. Die Zahl jener Läuferinnen und Läufer, die an zwei Wochenenden in Folge diese Bewerbe "voll" (egal ob Halb-, Ganz- oder Viertelmarathon) laufen wollen/können, ist zwar nicht erhoben.

Sie dürfte aber höchstens in einem niedrigen dreistelligen Bereich liegen.

Foto: wachaumarathon.com

Mindestens ebenso komplex, erklärt Buchleitner – der traditionell im ORF den VCM live kommentiert – seien aber die wirtschaftlichen Implikationen: Etliche seiner Partner und Sponsoren arbeiten auch eng mit dem VCM zusammen. Ob und wie sich die Nähe der Events zueinander auf deren Strategie (aber auch Logistik und ihren Personaleinsatz) auswirken wird, steht in den Sternen.

Und damit auch der Bewerb an sich: Eine Verlegung des Wachau-Marathons um eine oder zwei Wochen sei aber nicht so einfach.

So wie in Wien gibt es da nämlich 1.000 andere Faktoren zu berücksichtigen – etwa die "Starnacht in der Wachau": "Wenn die Frau Schöneberg nur am 24. September kann, ist dieser Termin eben in Stein gemeißelt."

Foto: thomas rottenberg

Doch so wie Planung und Terminfindung auch in der Wachau nicht innerhalb einer halben Stunde erledigt sind, weiß Buchleitner, sei das ja auch in Wien: Dass es da vorab keinen Mucks, keine Kontaktaufnahme, nicht einmal den Versuch einer Terminkoordination gab, kommentiert der Wachau-Macher persönlich nicht ("Es ist eben, wie es ist") – der Eintrag auf der Veranstaltungs-Homepage ist aber eindeutig. Obwohl Michael Buchleitner die VCM-Verlegung in den Herbst aus VCM-Sicht "grundsätzlich und gut nachvollziehen" kann – und damit ziemlich genau auch meinen Standpunkt trifft.

Nur: Bei mir geht es da halt nicht ums wirtschaftliche oder sonstige Überleben. (Thomas Rottenberg, 23.9.2020)

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