"Bilder der Hoffnung" zeigt eine Ausstellung von jugendlichen Flüchtlingsfotografen in Athen.

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Wenn es um Migration, Demokratie, Staatsbürgerschaft und die vielen Verzahnungen dieser an sich schon komplexen Themengebiete geht, ist man bei Rainer Bauböck richtig. Der Soziologe und Politologe ist Vorsitzender der Kommission für Migrations- und Integrationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), die vergangene Woche ihre Jahrestagung in Salzburg abhielt.

STANDARD: Seit dem Brand im griechischen Flüchtlingslager Moria ist auch die Debatte um den Umgang mit Flüchtlingen wieder angefacht. Heute, Mittwoch, will die EU-Kommission Vorschläge für ein neues Asyl- und Grenzschutzsystem präsentieren. Was wären aus Sicht der Migrationsforschung die besten Konzepte, um derartige Krisen zu vermeiden?

Bauböck: Migrationsforschung kann da nicht mit einer Stimme sprechen. Aber in einer solchen Situation sind natürlich auch Forscherinnen und Forscher aufgerufen, Stellung zu beziehen und sich einzubringen. Der Migrationsexperte Gerald Knaus ist das bekannteste Beispiel dafür, und ich halte seine Vorschläge für überwiegend sinnvoll. Um es zusammenzufassen: Man braucht sicher ein europaweit harmonisiertes System, allerdings darf sich das nicht auf die Kontrolle der Außengrenzen beschränken. Der Knackpunkt, an dem eine europäische Solidarität in der Flüchtlings- und Migrationspolitik bisher gescheitert ist, ist das Dublin-System, das den Erstaufnahmestaaten die gesamte Verantwortung aufbürdet, nicht nur für die Erstaufnahme, sondern auch für die Durchführung des Asylverfahrens.

STANDARD: Wie kann europäische Solidarität hergestellt werden?

Bauböck: Es müsste eine Einigung darüber geben, dass, wenn Geflüchtete EU-Territorium betreten, die gesamte EU dafür verantwortlich ist. Die gesamteuropäische Solidarität ist so weit unterminiert worden, vor allem von den Visegrád-Staaten, aber auch durch Österreich, das sich zwischen den Visegrád-Staaten und Ländern, die grundsätzlich aufnahmebereit sind, positioniert, dass man heute sagen muss: zurück zum Start und ein System ausarbeiten, das nicht nur gemeinsame Standards im Asylwesen festlegt, sondern auch die Verantwortung für die Geflüchteten aufteilt. Wenn das nicht möglich ist, ist die zweitbeste Lösung eine "Koalition der Willigen", also von Staaten, die bereit sind, voranzugehen. Das würde allerdings eine Trittbrettfahrermentalität bei den Ländern, die sich nicht beteiligen, bestärken.

Es müsste eine Einigung darüber geben, dass, wenn Geflüchtete EU-Territorium betreten, die gesamte EU dafür verantwortlich ist", sagt Rainer Bauböck.
Bauböck

STANDARD: Im Zuge der Debatte wird immer wieder das Konzept der Pull-Effekte herangezogen, also dass Migranten durch bestimmte Maßnahmen angezogen werden könnten. Ist das wissenschaftlich haltbar?

Bauböck: Es gibt eine Reihe von Studien, aber ganz schlüssig kann man das noch nicht beantworten. Es gibt etwa Untersuchungen, die zum Ergebnis kommen, dass die Seenotrettung keinen zusätzlichen Pull-Effekt auf die nachkommenden Mittelmeer-Überquerungen gehabt hat. Das heißt nicht, dass der Effekt nicht existiert, nur ist er statistisch nicht nachweisbar. Eine andere Frage ist jene nach dem Pull-Effekt der Aufnahme von Flüchtlingen auf den griechischen Inseln. Da geht es derzeit um eine Größenordnung von mehreren Tausend Menschen. Wenn Österreich eine kleine Zahl an unbegleiteten Minderjährigen aus Moria aufnehmen würde, hat das sicher keinen signifikanten Pull-Effekt. Wenn man aber alle Geflüchteten von den Inseln auf das Festland und auf andere EU-Staaten aufteilen würde, müsste man natürlich flankierende Maßnahmen setzen, damit nicht der Eindruck entsteht, dass dies jetzt eine neue offene Route ist. Im Gegensatz zum Sommer 2015 geht es um geregelte Formen der Umverteilung, und bei diesen sind Pull-Effekte schwächer. Es müssen langfristige Lösungen gefunden werden, wie Europa mit dem Pull-Effekt, den eine reiche Region, die an arme Regionen grenzt, zwangsläufig ausübt, umgeht. Das heißt: nicht zu leugnen, dass Menschen kommen werden, sondern geregelte Migrationskanäle bieten, die den Schleppern das Handwerk legen, indem sie die ungeregelten Wege, die ja für die Migranten sehr teuer und riskant sind, deutlich weniger attraktiv machen.

STANDARD: Wie könnten solche Migrationskanäle ausschauen?

Bauböck: Die sind weniger für Menschen gedacht, die vor Gewalt flüchten und durch die Flüchtlingskonvention geschützt sind, sondern vor allem für Menschen in afrikanischen Staaten, wo es große Armut gibt, aber auch wachsende Schichten, die genügend Ressourcen haben, um sich auf den Weg nach Europa zu machen. Diesen Menschen muss man einen Deal anbieten. Schließlich gibt es ja auch in Europa Bedarf an Arbeitskräften. Es braucht eine Entwicklungspartnerschaft mit afrikanischen Staaten, gekoppelt an ein Migrationsprogramm samt Ausbildungsmöglichkeiten und Jobchancen, das interessanter ist für junge Menschen, als ihr Geld in Schlepper zu investieren. Konzepte dafür gibt es – die Umsetzung scheitert meist am politischen Widerstand gegen jede neue Zuwanderung, vor allem aus afrikanischen Staaten und muslimischen Gesellschaften.

STANDARD: Wechseln wir zu den Migranten, die jetzt schon hier leben: Sie forschen schon lange zu demokratischer Inklusion und haben auch kritisiert, dass bei der Wien-Wahl 30 Prozent der Stadtbevölkerung kein Wahlrecht haben. Was erschwert denn den Zugang zur Staatsbürgerschaft?

Bauböck: Österreich hat im europäischen Vergleich eines der restriktivsten Staatsbürgerschaftsgesetze. Da geht es nicht nur um die zehnjährige Wartefrist für reguläre Einwanderung, auch nicht primär um den Deutsch- und Staatsbürgerschaftstest, sondern vor allem um die Einkommenshürden und um die Pflicht, die bisherige Staatsbürgerschaft zurückzulegen. Die Einkommenshürden treffen vor allem Zuwanderer aus Drittstaaten, aber auch aus den östlichen EU-Staaten. Die Pflicht, die Staatsbürgerschaft zurückzulegen, schreckt vor allem die mobilen EU-Bürger ab. Die größte Zuwanderungsgruppe kommt aus Deutschland, und die denkt überhaupt nicht daran, ihre Staatsbürgerschaft abzugeben. Deutschland selbst verlangt das bei der Einbürgerung von EU-Bürgern seit 2007 nicht mehr. In Österreich liegt die Einbürgerungsrate heute bei 0,7 Prozent, also extrem niedrig. Das kann man nur mit Staaten, die im Gegensatz zu Österreich keine Einwanderungsländer sind, vergleichen.

STANDARD: Welche Auswirkungen hat diese niedrige Rate?

Bauböck: Es bedeutet, dass das Repräsentationsprinzip der Demokratie ausgehöhlt wird. Die Gesetzgebung repräsentiert nicht mehr die hier lebende Bevölkerung. Das ist vor allem in großen Ballungsräumen wie Wien ein Problem. Österreichweit gibt es 16 Prozent im wahlberechtigten Alter, die ohne Staatsbürgerschaft hier leben, in Wiener Bezirken wie Rudolfsheim-Fünfhaus sind es bald 50 Prozent. Das ist ein Problem demokratischer Legitimität, ein Teil der Bevölkerung regiert über den Rest. Das ist mit Demokratie nicht mehr vereinbar.

STANDARD: Wie ließe sich das ändern?

Bauböck: Es gibt zwei Möglichkeiten: den Zugang zur Staatsbürgerschaft erleichtern oder das Wahlrecht von der Staatsbürgerschaft entkoppeln. Ich vertrete die Ansicht, dass man beides tun sollte, aber auf unterschiedlichen Ebenen. Bei Wahlen auf nationaler Ebene sollte die Staatsbürgerschaft Bedingung bleiben, aber es muss für jene, die fünf Jahre hier gelebt haben und sich nichts haben zuschulden kommen lassen, einen Anspruch auf Staatsbürgerschaft geben; und Doppelstaatsbürgerschaften sollten toleriert werden. Auf kommunaler Ebene sollten alle mit Wohnsitz in der Gemeinde wählen können.

STANDARD: Ist das realistisch?

Bauböck: Das ist kein utopisches Modell. Bei lokalen Wahlen haben EU-Bürger seit 1993 das Recht zu wählen. In zwölf EU-Staaten gilt das auch für Drittstaatsangehörige. Ein allgemeines kommunales Ausländerwahlrecht gibt es auch in acht lateinamerikanischen Staaten und in Südkorea. Eine Stadtregierung hat keine Kontrolle über Zuwanderung und ist für alle, die einen dauerhaften Wohnsitz haben, verantwortlich. Es wäre also sinnvoll, wenn es so etwas wie eine "Stadtbürgerschaft" gäbe, an die auch das Wahlrecht gekoppelt ist. In Österreich ist das aber momentan verfassungsrechtlich nicht möglich. Grundsätzlich gilt: Zur Integration gehört der Zugang zur Staatsbürgerschaft und die Chance auf politische Beteiligung. Hier gibt es in Österreich den größten Rückstand gegenüber vergleichbaren Einwanderungsländern. (Karin Krichmayr, 23.9.2020)