Wie viel Zeit auf der Weide steht einer Biokuh zu? Die EU-Kommission will sie täglich und ganzjährig im Grünen sehen.

Foto: Heribert Corn

Wien – "Das ist reine Willkür von Brüsseler Schreibtischtätern. Da kann ich nicht mehr mit." Vor 28 Jahre stellte ein Landwirt aus Niederösterreich seine Milchwirtschaft auf Bio um. Im April legte er den Biostatus ab – nachdem ihm die EU "praktisch über Nacht" strengere Regeln für die Weidehaltung vorschrieb. 50 Tiere hat er im Stall. Auslauf im Freien haben sie rund um die Uhr, eine Weide in der Größe, wie sie die Kommission für richtig hält, jedoch nicht. Sein Besitz sei weit übers Dorf hinaus verstreut und der Hof zwischen zwei stark befahrenen Straßen eingezwängt, erzählt der Landwirt. Gut 300 Meter müsse er sein Vieh diese entlangtreiben, um auf steiles, schattiges und feuchtes Grünland zu kommen, das als Futterplatz nicht viel hergebe.

In einigen Jahren wollte er einen neuen Stall mit besserem Zugang ins Grüne bauen. Doch die EU lässt keine längere Übergangsfrist zu. "Die neuen Auflagen haben uns überrollt, ich bin gezwungen, die Reißleine zu ziehen." Der Landwirt sieht sich damit nicht allein. Jede Woche geben derzeit durchschnittlich fünf Biobetriebe die Viehwirtschaft auf, rechnet Otto Gasselich, Vize-Obmann der Bio Austria, vor.

Kein gutes Haar

Österreichs Bauern sind auf Brüssel schlecht zu sprechen. Vor allem wenn es um ihr Vieh geht. Drei Jahre ist es her, seit die EU-Kommission die Betriebe über ein Audit auf Herz und Nieren prüfte. Hiesige Landwirte werden bei Bio international als Vorreiter gehandelt. Dennoch ließ Brüssel an ihrer Tierhaltung vielerorts kein gutes Haar. Ob Rind, Schaf, Ziege oder Pferd: Haben deren Fleisch und Milch Biostatus, will die EU sie allesamt ganzjährig und täglich auf der Weide sehen.

Das kann Österreichs Biobranche aber nicht flächendeckend bieten. Viele Bergbauen lassen die Tiere den Sommer über auf der Alm, den Winter verbringen sie bei zeitweisem Auslauf angebunden im Stall. Andere Höfe sind mitten in Ortsgebieten und durch Bundesstraßen oder Gleise vom Grünland getrennt. Ausnahmen von der Weidepflicht, die Österreich durchaus großzügig gewährte, sind seit heuer auf ein Minimum reduziert. Mehr als 300 Betriebe können sie nicht erfüllen. Ab 2021 sollen sie ganz Geschichte sein. Das Wort "Ausnahme" an sich will schon jetzt kaum einer mehr in den Mund nehmen. Macht Brüssel ernst, müssen 5000 Biolandwirte ihren Betrieb neu ausrichten.

Tauziehen um Interpretationshoheit

Entsprechend gereizt wird zwischen Wien und Brüssel verhandelt, zahlreiche Rechtsgutachten machen die Runde. Gestern, Dienstag, erging ein Brief an die EU-Kommission. Absender sind die Ministerien für Gesundheit und Landwirtschaft. Beide ersuchen die EU darin um mehr Zeit: Statt 2021 sollen die strengeren Regeln erst 2022 gelten. Derweil sollen Nutztieren unbefestigte Auslaufweiden zur Verfügung stehen. Eine Antwort wird im Oktober erhofft.

Einblick in den genauen Inhalt des Schreibens erhielt die Biobranche keinen. Dass die EU den von Österreich in den Ring geworfenen sogenannten Bewegungsweiden zustimmt, die meist nur ein, zwei Stunden Auslauf am Tag gewähren, bezweifelt sie. Österreich verliere damit jede Chance auf Verhandlungsspielraum.

Angst vor Strafzahlungen

Das Szenario, das Experten skizzieren: Brüssel gibt Österreich ein Jahr Schonfrist, rückt aber nicht von seinen Auflagen ab 2022 ab. Diese besagen: Im Stall belassen dürfen Bauern ihr Vieh nur, wenn Witterung, Beschaffenheit des Bodens und Jahreszeit den Weidegang nicht erlauben. Der Trumpf, den die EU in der Hand hält, sind angedrohte Strafzahlungen von bis zu 100 Millionen Euro aufgrund bisher falsch ausgelegter Regeln. Davon Abstand nehmen will sie nur, wenn Österreich ihre strengeren Auflagen bedingungslos akzeptiert, wird in der Politik spekuliert.

"Wir möchten so viele Betriebe wie möglich im Biobereich halten", heißt es im Landwirtschaftsministerium auf Anfrage. Der Trend bei den Konsumenten gehe in Richtung Tierwohl. Es sei daher davon auszugehen, dass die EU-Kommission bei der Bio-Verordnung 2022 strengere Rahmenbedingungen setze. "Biobetriebe werden sich auf diese neuen Rahmenbedingungen einstellen müssen. Dafür benötigen sie jedoch praktikable Lösungen und ausreichend Zeit, um sich anpassen zu können."

Unter die Räder

Wolfgang Pirklhuber, Sprecher der IG-Biokontrollstelle, sieht gute Betriebe von der EU zu Unrecht an den Pranger gestellt. Wichtige Errungenschaften des Biolandbaus kämen gerade unter die Räder. "Ein zeitlicher Aufschub allein ist keine Lösung." Es brauche praxistaugliche Modelle für die Zukunft.

Alarmiert gibt sich die Fleischindustrie. Sie warnt intern vor Engpässen bei Biorindfleisch, da Betrieben damit verbundene Investitionen über den Kopf wachsen. Auch Johann Költringer von der Vereinigung der Milchverarbeiter erwartet sich Flexibilität. "Wir wollen keinen laxen Umgang mit Biostandards. Man muss sich die Bedingungen, unter denen viele kleinen Bauern arbeiten, aber schon im Detail ansehen."

Wifo-Experte Franz Sinabell zweifelt daran, dass Brüssel bei an sich einheitlichen Spielregeln in der EU weiter ein Auge zudrückt. Es sei nicht in ihrem Sinne, einzelnen Ländern Vorteile zu verschaffen. Und davon ganz abgesehen: Konsumenten assoziierten Bio vor allem auch mit Tierhaltung auf der Weide. (Verena Kainrath, 23.9.2020)