Der Meister denkt nach: Dutzende Uhren hat Gérald Genta im Laufe seines Lebens entworfen. Viele davon sind heute Kult.

Foto: Audemars Piguet

Das Redesign der Ingenieur SL von IWC Schaffhausen aus dem Jahr 1976 geht ebenfalls auf das Konto Gentas.

Foto: Gerald Genta Heritage Association

Gérald Genta hatte es satt, dass andere die Lorbeeren für seine Arbeit einheimsten. Jahrelang übernahmen große Uhrenmarken seine Entwürfe, ohne zu wissen oder gar Wert darauf zu legen, von wem sie stammten. Rolex zum Beispiel: Die King Midas mit ihren rhombenförmigen Gehäuseflanken geht auf ihn zurück. Man sah sie an den Handgelenken von Elvis und Sean Connery. Oder Patek Philippe: 1958 entwarf er die Ellipse d’Or mit einem Gehäuse, dessen elliptische Form sich zwischen Kreis und Rechteck bewegt. Patek hat sie nach wie vor im Programm.

"Alle rühmen sich meiner Kreationen, aber mich ignorieren sie am liebsten", gab Genta noch 2011 leicht grantig zu Protokoll. Da war er längst eine Legende in der Uhrenwelt – man verglich ihn bereits mit Fabergé, mit Picasso, nannte ihn "Künstler der Zeit" und den "ersten Uhrendesigner der Welt".

Karger Lohn

Dabei war er eher zufällig in dieses Gewerbe gestolpert. Geboren 1931 in Genf, Vater Italiener, Mutter Schweizerin, lernte Genta Goldschmied und Juwelier. Nach seinem Lehrabschluss 1950 fand er jedoch keine Stelle. So schlug er sich mit Gelegenheitsjobs durch und zeichnete immer wieder Entwürfe für Uhrenhersteller und deren Zulieferer: heute ein Armband, morgen ein Gehäuse, ein anderes Mal ein Zifferblatt – bei einem kargen Lohn von 15 Franken pro Design zählte die Quantität.

"Damals gab es noch keine Designer. Alles, was den Uhrenfabrikanten einfiel, war, Omega zu kopieren", resümierte er einmal spöttisch. Dabei hat er selbst für Omega gearbeitet: Die Constellation von 1960 etwa entsprang seinem Kopf. Er folgte dabei seinem eigenen Stil, den man als "lignes douces", sanfte Linien, bezeichnete.

Unsichtbares sichtbar machen

Mit seiner Uhrenmarke, 1969 gegründet und nach ihm benannt, wagte er den Befreiungsschlag, er blieb aber auch als freier Designer tätig. Ein Jahr später gelang ihm sein wohl größter Wurf. Eines Nachmittags im Jahr 1970 erhielt er den Auftrag, eine völlig neue, wasserdichte Sportuhr zu gestalten. Der Auftrag stammte von Audemars Piguet, wo man händeringend nach etwas suchte, das sich von der Masse der immer gleichen, langweiligen Goldarmbanduhren abhob. Etwas, das mehr dem Zeitgeist entsprach.

Genta lieferte. In weniger als 24 Stunden entwarf er die Royal Oak: Ecken, polierte und patinierte Kanten, die achteckige Lünette mit sichtbaren sechseckigen Schrauben befestigt, integriertes Armband, kein Glied wie das andere. Das, was davor versiegelt und versteckt worden war, stellte plötzlich den Mittelpunkt des Designs dar und setzte damit einen unverkennbaren, aufregenden Akzent.

Der Entwurf und das Produkt: 1972 designte Genta für Audemars Piguet die Royal Oak. Bis heute feste Säule des Erfolgs der Uhrenmarke aus Le Brassus – auch wenn es am Anfang gar nicht danach aussah.
Foto: Gerald Genta Heritage Association

Damals ein Ladenhüter

Mit der Royal Oak brach die Zeit der Edelstahluhren im Luxussegment an. Ein Material, das im feinen Uhrmachergewerbe bis dahin kaum einen Platz hatte. Allerdings mit einiger Verzögerung. Denn die Royal Oak war zunächst ein Ladenhüter: Mit einem Listenpreis von damals 3.650 Schweizer Franken war sie teilweise teurer als Goldmodelle anderer Hersteller. Martin Wehrli, Museumsdirektor bei Audemars Piguet, erinnert sich: "Die Leute fanden die Uhr zwar toll, glaubten allerdings, wir würden bald bankrott gehen."

Heute gilt die Royal Oak als eine der weltweit gefragtesten Uhren. Für ein Modell der ersten Baureihe, der sogenannten "A-Serie", zahlte ein Kunde bei einer Auktion des Dorotheums 2019 den stolzen Preis von 43.750 Euro. Interessanterweise lag bei diesem Stück das Originalzertifikat vor. Daraus war ersichtlich, dass die Uhr zwar mit der ersten Tranche 1972 in den Handel kam, aber erst vier Jahre späte verkauft werden konnte.

Der Kult um die Serviette

Legendär ist heute auch die Episode rund um die Geburt der Nautilus von Patek Philippe, einer weiteren Kultuhr. Genta kritzelte innerhalb von fünf Minuten jenen Zeitmesser auf eine Serviette, der noch heute für Furore sorgt – und für den Uhrenliebhaber eine jahrelange Wartezeit in Kauf nehmen. Die nackten Schrauben der Royal Oak waren verschwunden und einer hochwertig satinierten Lünette gewichen, deren Form an das Bullauge eines Schiffs angelehnt ist, aber etwas ovaler ist. Das markanteste Kennzeichen der Nautilus sind allerdings die zwei "Flügel" auf der Seite des Gehäuses. Die Uhr kam 1976 auf den Markt.

Das Design der Nautilus für Patek Philippe hat Gérald Genta (1931 bis 2011) innerhalb von fünf Minuten auf eine Serviette gezeichnet. Im Bild zu sehen: Das Modell der begehrten Stahluhr, das Patek anlässlich des 40. Geburtstag der Nautilus 2016 auf den Markt brachte.
Foto: Patek Philippe

Künstlerisch verwirklichte sich Genta im Rahmen seiner eigenen Uhrenmarke. Einer betuchten Klientel erfüllte er noch so ausgefallene Wünsche, schneiderte ihnen Zeitmesser ans Handgelenk, die sich der Mainstream der Uhrenindustrie nicht einmal auszudenken wagte. Zum Beispiel die "Dracula-Uhr", bei der die Rubine auf dem Zifferblatt Blutstropfen symbolisieren. Selbst Mickey Mouse oder den Rosaroten Panther packte er auf das Zifferblatt. Einige dieser Stücke waren Millionen wert.

Viele Zitate

Neben der äußeren Gestalt legte er auch bei den Uhrwerken Wert auf Außergewöhnliches. Mit der Grande Sonnerie hielt seine Manufaktur eine Zeitlang sogar den Weltrekord für die komplizierteste Uhr. Dabei hegte Gérald Genta immer eine gewisse Abneigung gegen den Zeitmesser an sich: "Ich mag Uhren nicht", sagte er einmal. Sie seien für ihn die Antithese zur Freiheit. "Ich hasse es, mich zeitlichen Vorgaben unterwerfen zu müssen." Auf der anderen Seite mochte er es nicht, wenn man ihn warten ließ, wie Martin Wehli zu berichten weiß. Genta habe schon etwas Divenhaftes gehabt, gibt er zu. Nachsatz: Aber wer, wenn nicht er, konnte sich das leisten?

"Er war ein großer Mann, ein Star, auch wenn es das damals noch gar nicht gab", erinnert sich Jean-Claude Biver, selbst eine schillernde Figur im Uhrenkosmos. Dass das Design der Uhren seiner eigenen, Bivers-Marke, Hublot, die heute zum Luxuskonzern LVMH gehört, das eine oder andere Stilelement mit Genta-Einfluss aufweist, ist wohl kein Zufall. Tatsächlich tauchten in den letzten Jahrzehnten immer wieder Zeitmesser auf, deren Erscheinungsform die Entwürfe von Gérald Genta zitieren. Dem Meister selbst schien das nicht anzufechten: "Es macht mir nichts aus, kopiert zu werden. Ich sehe das als Kompliment." Um nachzusetzen: "Wer nicht kopiert wird, ist inkompetent."

Noch eine Uhrenmarke

1994 verkaufte er seine Uhrenmarke Gérald Genta. Seit 2000 gehört sie dem römischen Edeljuwelier und Uhrenhersteller Bulgari. Jüngst stellte der die Gérald Genta Arena Bi-Retrograde Sport vor. Eine Hommage an den Meister, dessen Erbe in nicht geringem Maß dazu beitrug, die Römer zu einem großen Player in der Welt der Haute Horlogerie aufsteigen zu lassen.

Gérald Genta Arena Bi-Retrograde Sport: Bei Bulgari lebt auch 2020 der Spirit des Jahrhundertdesigners fort. Die Italiener, Teil des LVMH-Konzerns, hatten die Marke Gérald Genta 2000 gekauft.
Foto: Bulgari

Seinen Lebensabend verbrachte Genta damit zu malen. Im Alter von 70 Jahren, 2001, juckte es ihn aber offenbar noch einmal: Er gründete eine weitere Uhrenmarke, die seine beiden Vornamen trug, Gérald Charles. An seine früheren Erfolge konnte er damit allerdings nicht mehr anknüpfen. Gérald Genta starb 2011. Er wurde 80 Jahre alt. (Markus Böhm, RONDO, 30.1.2021)