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Wie soll man reagieren, wenn man, heimgekehrt von schwerer Büroarbeit, eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank holen will, und dann, dann sitzen drei kleine dreckiggrüne Männlein direkt neben den halb vereisten Kühlrippen auf dem Rost, schlenkern mit den kurzen, spindeldürren Beinchen, flackern mit den dreckigroten Knopfaugen und quieken empört mit dünner Stimme: "Tür zu! Es zieht!"

Komisch ist die Erzählung "Immer schön abtauen" um den DDR-Durchschnittsgenossen Jochen Mazeck, der in seinem Kühlschrank ein Trio von Gnomen vorfindet, nur zu Beginn. Denn je unverschämter sich die ungebetenen Gäste gebärden, desto mehr wird Jochens Misere zum Sinnbild für einen Menschen, der sich alles gefallen lässt. Da schimmert doch so etwas wie ein gemeinsamer Nenner der 18 Geschichten in diesem Band durch: Formal herrscht eine große Bandbreite, von der Space Opera über Zeitreisen und verschwörungstheoretische Szenarien bis zur märchenhaften Parabel. Man kann sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass unter der Oberfläche meist noch eine zweite Bedeutungsebene liegt.

Die Steinmüllers und die Brauns

Mit Science Fiction schreibenden Ehepaaren kann man nicht unbedingt ein Kreuzfahrtschiff vollbuchen – aber die DDR hat seinerzeit gleich zwei hervorgebracht, die sehr bekannt und vor allem im Bereich kürzerer Erzählungen hochproduktiv waren. Eines davon, Johanna und Günter Braun, habe ich im Verlauf der Rundschaugeschichte immer wieder mal erwähnt. Der absurde Humor, mit dem die Brauns die Bürokratur durch den Kakao zogen, hat mich oft lauthals zum Lachen gebracht. Sie sind leider schon 2008 verstorben, und eine Neuedition ihrer Werke wäre meiner Meinung nach wirklich mal angesagt. Bis dahin empfehle ich das Stöbern in Antiquariaten, es lohnt sich!

Das zweite Beispiel heißt Angela und Karlheinz Steinmüller, und diese beiden sind erfreulicherweise immer noch aktiv. Vom Regime wurden sie weniger behelligt als die Brauns – wohl auch, weil sie ihre Geschichten gerne in größere räumliche und zeitliche Ferne verlagerten. Was selbst dann einen gewissen Verfremdungs- und damit Schutzfaktor mit sich bringt, wenn die Plots ins Philosophische und Gesellschaftspolitische gehen. Ihr bekanntestes Werk dürfte der populäre SF-Roman "Andymon" sein, der den Aufbau einer neuen Gesellschaft auf einem Kolonialplaneten schildert. Neuausgaben des Steinmüllerschen Werks erscheinen seit vielen Jahren bei Memoranda (ursprünglich eine Reihe bei Golkonda, mittlerweile ein eigener Verlag). "Marslandschaften" ist der bereits zehnte Band.

Elektronischer Heiligenschein und Quantentelepathie

Die Erzählung "Aura" gibt einen gelungenen Auftakt ab: Vorwarnungslos wird ein kleiner Teil der Bevölkerung auf sämtlichen elektronischen Geräten mit einem schmeichelhaften Heiligenschein dargestellt. Während die Hauptfiguren vor allem rätseln, wie das technisch möglich ist, drängen sich im Hintergrund schon brisantere Fragen auf: Wer hat die Auswahl getroffen, etwa eine KI? Und nach welchen Kriterien? Und wie sollen die "Auserwählten" auf ihren Sonderstatus reagieren? Rasch schlägt das vermeintlich banale Gimmick gesellschaftliche Wellen.

"Wiedergeburt" zeigt, dass die Steinmüllers auch den Space-Opera-Modus recht beeindruckend draufhaben. Protagonist Zangger hat nach einem Unfall sein Gedächtnis verloren und begibt sich nun auf die Spuren seiner Vergangenheit. Wozu offenbar auch die Teilnahme an einem Experiment zu Quasi-Telepathie mittels quantenphysikalischer Verschränkung gehörte. Das ist aber nur der Plot, darüber hinaus wimmelt die Novellette derart von Wordlbuilding-Ideen, dass es für einen Roman reichen würde: Weltraummüll als Politikum, neue Kunstsprachen, die für unterschiedliche Zwecke designt wurden, oder Pillen, die das Denken während langer Raumflüge entschleunigen, um nur einige zu nennen.

Zurück in der Zeit

Einen ausgesprochen fiesen Verlauf nimmt die Titelgeschichte "Marslandschaften", in der ein selbsternanntes Medium um 1900 mit seinen angeblichen Visionen vom Mars Gelehrte und Künstler in seinen Bann zieht. Auch der anfangs skeptische Ich-Erzähler gerät tiefer hinein, als er für möglich gehalten hätte. Und in der Parabel "Auf schwankendem Boden" haben sich reiche Europäer auf Gran Canaria ein bildungsbürgerliches Paradies aufgebaut, das Armut ebenso ausblendet wie den Vulkan, der unter ihren Füßen schlummert. Das Szenario von diesem "Neuen Atlantis" hat mich unwillkürlich an den 60er-Jahre-Film "Der Tag, an dem die Fische kamen" erinnert.

Formal aus dem Rahmen fällt das im Geiste Stanislaw Lems geschriebene Hörspiel "Gulasch à la Ganymed": Der Besatzung einer Forschungsstation auf dem Jupitermond wird ungefragt ein Koch geschickt. Eigentlich eine gute Sache, aber da ihn alle für einen Spitzel halten, setzt sich bald ein lächerlicher Eiertanz in Gang. Ebenfalls humorvoll ist "Churchill im Fernsehen", der Form nach der Leserbrief eines Bürgers, der sich über das Unwesen der Konjekturalhistorie empört – wir würden Alternativweltgeschichten dazu sagen. Insbesondere haben es ihm minderbemittelte Autoren wie Winston Churchill oder "Adolf Hiedler" angetan: Die beschworen in ihren reißerischen Machwerken Weltkriegsszenarien herauf, wie sie das immer noch monarchisch regierte Europa des 21. Jahrhunderts nie erlebt hat.

Insgesamt umfasst der Band 17 Erzählungen und ein Hörspiel aus den Jahren 1978 bis 2020; vier davon waren bislang unveröffentlicht. Und wenn ich – neben der großen inhaltlichen Bandbreite – eine Bilanz daraus ziehen soll, dann die, dass mir die jüngsten Geschichten am besten gefallen. Was eigentlich das Schönste ist, das man über Autoren, die immer noch aktiv sind, sagen kann.