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Erneut forderten am Dienstag zahlreiche Menschen in Bulgariens Hauptstadt Sofia den Rücktritt der Regierung.

Foto: AP Photo/Valentina Petrova

Am Dienstag, dem bulgarischen Unabhängigkeitstag, demonstrierten wieder tausende Menschen und forderten den Rücktritt der Regierung unter dem Konservativen Bojko Borrisov und des Generalstaatsanwalts Ivan Gešev. Borrisov und Gešev wird von Demonstranten und der Opposition vorgeworfen, sie hätten die staatlichen Strukturen und die Unabhängigkeit der Justiz durch parteiliche Interessen unterlaufen.

Auch der von der sozialistischen Oppositionspartei unterstützte Präsident Rumen Radev stellt sich offen gegen die Regierung. Die meist jungen Demonstranten fordern, dass die Wahlen vorgezogen werden und nicht erst regulär kommenden April stattfinden sollen. Laut einer Gallup-Umfrage werden vorgezogene Neuwahlen von 59 Prozent der Bevölkerung unterstützt.

In den letzten Wochen kam es auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Polarisierung und Radikalisierung nehmen zu.

Verfassungsänderung

Borrisov, gegen dessen Amtsführung seit Anfang Juli protestiert wird, will indes eine Verfassungsänderung durchziehen. Damit soll das Parlament von 240 auf 120 Sitze verkleinert werden. Die Regierungspartei GERB war zudem in jüngster Zeit in Korruptionsskandale verwickelt. Vom Premier selbst wurde kürzlich ein Foto publiziert, das ihn schlafend neben einem Bündel Geld und einer Pistole zeigt. Bulgarien gilt als der korrupteste EU-Mitgliedsstaat.

Die EU hat zwar einen Überwachungsmechanismus eingerichtet, um die Schaffung von mehr Rechtsstaatlichkeit zu forcieren, doch Experten halten dieses Instrument für zahnlos. Die bulgarische Rechtswissenschaftlerin Radosveta Vassileva vom University College London sagte zum STANDARD, dass der Mechanismus als Misserfolg zu sehen ist, weil es keine Belohnungen oder Sanktionen für das Einhalten oder Nichteinhalten von Versprechungen gibt und die Methoden zur Bewertung unklar seien.

Vassileva kritisiert, dass der Oberste Justizrat, der die Richter ernennt und befördert mittlerweile "im Wesentlichen eine politische Marionette" sei. Unbequeme Richter würden durch Disziplinarverfahren belästigt und andere Richter befördert. Der Präsident des Obersten Gerichtshofs habe sich mehrfach offen über politischen Druck beschwert. Die Gewaltenteilung sei in Bulgarien mangelhaft.

Sowjetische Struktur

Besonders problematisch sei die Rolle des Generalstaatsanwalts, von dessen Entscheidungen aufgrund einer "vertikalen sowjetischen Struktur, die 1947 eingeführt wurde", alles abhängig sei. "Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft ein vollständiges Monopol auf den Ermittlungsprozess – Bulgarien ist das einzige EU-Land, in dem dies der Fall ist", so Vassileva zum STANDARD. Die Venedig-Kommission fordere seit langem ohne Erfolg Reformen. (Adelheid Wölfl, 23.9.2020)