Paranoide Zeiten bringen viele Fragen mit sich. Der Deepfake-Avatar von Doktor Freud beantwortet sie alle auf Basis künstlicher Intelligenz.

Steirischer Herbst

Ekaterina Degot konzipierte das Festival neu.

Marija Kanizaj

In einem Ausnahmejahr wie diesem läuft nichts so ab wie gewohnt. Beim Festival Steirischer Herbst geht die Veränderung sogar so weit, dass sich der Name in "Paranoia TV" verändert hat. Die bisherige "Herbst"-Webseite wurde von einer neuen geschluckt: www.paranoia-tv.com. Das macht schlagartig klar, wie andersartig diese Ausgabe ablaufen wird, zum überwiegenden Teil nämlich im Netz.

Allerdings hat sich Herbst-Intendantin Ekaterina Degot gegen die meist mit mürben Ergebnissen einhergehenden Streaminglösungen entschieden – also gegen abgefilmte Performances, wie sie noch im Frühjahr die Rezeption dominierten. Heute, ein halbes Jahr später, sind die Ideen ambitionierter. Degot, seit zwei Jahren im Amt, konnte, nachdem sie im April das geplante Programm über Bord geworfen hatte, die Arbeiten für eine virtuelle Rezeption von neuem in Auftrag geben. Fast alle Künstlerinnen und Künstler haben mitgemacht; es galt, auf TV-Formate umzuschalten.

Der Steirische Herbst als Fernsehanstalt? So ähnlich, auch wenn es noch andere Distributionskanäle gibt. Auf 99 Bildschirmen, die über die Stadt Graz in Schaufenstern verteilt stehen, wird das Programm von Paranoia TV zu sehen sein. Es könnte wie in den 1960er-Jahren werden, als noch wenige Haushalte Apparate hatten und sich deshalb Trauben von Menschen an den Wirtshausfenstern die Nasen plattdrückten, um Krimis oder Sportevents zu sehen. Die Idee daran ist, an öffentlichen Plätzen ein gemeinschaftliches Schauen zu ermöglichen sowie durch die niederschwellige Distribution auch neues Publikum zu finden. Ab heute, dem Eröffnungstag, steht das Paranoia-TV-Programm auch über eine eigene App zur Verfügung.

Kunst mit Essenslieferservice

Es sind Filme, Serien, Onlinespiele, Hörspiele, Diskussionsformate und eine mehrtägige Konferenz, die allesamt über Bildschirme zugänglich sind. Sergey Bratkov etwa befasst sich in seiner dreiteiligen Serie Unfunny Jokes/Towels/ Bottles mit dem russischen Alltag unter dem Coronavirus und Wladimir Putin, Ingo Niermann entwickelte eine 25-teilige Satire auf die Neue Rechte (Deutschland Süd-Ost), in der sich Männer in Bastionen zurückziehen und dort ausleben. Tamar Guimarães schrieb eine subversive Seifenoper in Bolsonaro-Brasilien (Soap). Josef Dabernigs Kurzfilm All the Stops führt in eine verwunschene Realwelt.

Der Bildschirm aber ist nicht alles. Kunst wird beim Steirischen Herbst in diesem Jahr auch mit dem Essenslieferservice ausgeteilt (Fotografin Joanna Piotrowska) oder über Malbücher verschenkt (Konzeptkünstler Roee Rosen), und auf Ö1 läuft täglich ein Paranoia-Podcast. Das Festival experimentiert gerade damit, neue Präsentations- und Rezeptionsmodelle für die Zukunft zu prüfen.

Der Moment, in dem heuer die Kunstproduktion und -distribution fallbeilartig gestoppt wurde, war künstlerisch betrachtet auch faszinierend, so Degot. Die Kunstwelt habe schon lange nach neuen Möglichkeiten gesucht, aus der eigenen Blase hinauszureichen. Momentan sei da viel in Bewegung, so Degot, vor allem in kleineren Projekten, zum Teil auf der Straße, die das Publikum direkt ansprechen. Daraus wird man Lehren für künftige Herbstausgaben ziehen.

Fußball-EM 2020

Das diesjährige Festival setzt sich intensiv mit den Themen auseinander, die das Virus gesamtgesellschaftlich losgetreten hat: Isolation, Gleichberechtigung sowie dem Begriff einer in ihrer Gesamtheit getroffenen und zusammenwachsenden Welt. Es herrschen viele Ängste, aber mit dem Titel "Paranoia" seien mehr die medial produzierten Ängste gemeint, so Degot, Verschwörungstheorien. "Damit wollen wir spielen."

Und das auch ganz real. Einige Projekte finden live vor Publikum statt, etwa die Eröffnungsperformance Das Finale von Janez Janša, der auf Taxifahrten das Finale der abgesagten Fußball-Europameisterschaft 2020 (Deutschland – Schweden) im Radio kommentiert. (Margarete Affenzeller, 24.9.2020)