Verkehrsexpertin Angelika Rauch.

STANDARD: Wo würden Sie lieber zu Fuß durch die Stadt flanieren? In Wien oder in Paris?

Angelika Rauch: Heute noch durch Wien. Wien hat sehr viele schön gestaltete Viertel, durch die man spazieren kann.

STANDARD: Und morgen?

Rauch: Wenn die Pariser Pläne wirklich so umgesetzt werden wie angekündigt, dann glaube ich, dass ich meine Runden in Zukunft lieber in Paris drehen werde.

STANDARD: Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo gilt als Galionsfigur innovativer Stadtplanung. Warum eigentlich?

Rauch: Zunächst einmal muss man klar sagen: Paris ist definitiv kein Vorreiter! Paris hat viel später angefangen, die Stadt rad- und fußgängerfreundlich zu machen als Wien. Aber die Schritte, die unter Hidalgo nun gesetzt werden, sind sehr radikal – dazu zählen die Einführung von Fußgängerzonen und Erholungsflächen in enormem Ausmaß, die Autoverbannung in Teilbereichen des Seine-Ufers, die Schaffung riesiger Stadtstrände. Hinzu kommt, dass das Radwegenetz geschlossen und im Bereich der Brücken und Freiflächen zum Teil überdacht werden soll. Paris setzt diese Konzepte sehr konsequent um. Doch der radikalste Schritt kommt noch.

STANDARD: Und zwar?

Rauch: Paris hat heute rund 83.000 Parkplätze auf Straßenniveau im öffentlichen Raum. Zum Vergleich: In Wien gibt es schon 313.000 Parkplätze mit Parkpickerl. Jedenfalls sollen in Paris 60.000 der insgesamt 83.000 Pariser Stellplätze in den nächsten sechs Jahren weichen.

STANDARD: Das ist eine Parkplatzvernichtung um mehr als 70 Prozent. Wie reagieren die Menschen auf eine solche Beschneidung?

Rauch: Hidalgo hat auch schon in ihrer letzten Amtsperiode als Bürgermeisterin viele Parkplätze reduziert – und sie wurde wiedergewählt! Die Zustimmung dürfte also gar nicht so klein sein.

STANDARD: Und worin sehen Sie die innovativsten Entwicklungen in Wien?

Rauch: Aktuell tut sich sehr viel. In vielen Bereichen wird an Verkehrsberuhigung gearbeitet. Einige Grätzel sollen verkehrsberuhigt werden, und auch die autofreie Innenstadt war sehr öffentlichkeitswirksam in den Medien. Aber das Gesamtkonzept fehlt noch, der rote Faden.

STANDARD: In der grünen Planungspolitik von Birgit Hebein fallen vor allem viele Pop-up-Projekte auf – etwa Bike-Lanes, Cooling Streets oder die Gürtelfrische West. Wie zielführend ist das?

Rauch: Pop-up-Projekte haben enormes Potenzial. Man zeigt auf, was möglich ist. Aber was nützen Pop-up-Projekte, wenn sie danach verschwinden und ein paar Straßen weiter bereits die nächste Tiefgarage gebaut wird? Solange wir in Wien eine Stellplatzverordnung haben, die vorsieht, dass pro 100 Quadratmeter neuer Wohnfläche ein Stellplatz errichtet werden muss, sind wir in die falsche Richtung unterwegs.

STANDARD: Was tun?

Rauch: Man muss die Menschen manchmal auch zu ihrem Glück zwingen. Es braucht den richtigen Cocktail aus Verboten, Zwangsmaßnahmen und positiven Anreizen. Die Verbote sind in Wien zu milde, die Lockmittel zu lasch.

STANDARD: Was wäre denn ein guter Anreiz?

Rauch: Ein gutes Incentive wäre aus meiner Sicht, wenn der Weg in die Arbeit mit dem Rad oder zu Fuß belohnt würde – beispielsweise indem man den längeren Anfahrtsweg in die Arbeitszeit miteinberechnet.

STANDARD: Was ist der größte Unterschied zwischen Wien und Paris, was die Projekt- und Prozesskultur betrifft?

Rauch: In Paris wird ein bisschen diskutiert, und dann geht es ans Tun. Das ist weitaus zielführender, als zunächst einmal alles zu zerreden. Die Wiener sind, was das betrifft, schon ein zaghaftes Völkchen. Ein Unterschied ist auch, dass in Paris Pop-up-Projekte fast ausnahmslos in die Langzeitumsetzung gehen. In Wien werden die meisten Projekte wieder abgebaut und abgedreht.

STANDARD: Was kann Wien von Paris lernen?

Rauch: Schneller, radikaler, mutiger! Einfach einmal tun!

STANDARD: Und Paris von Wien?

Rauch: In Wahrheit hat sich Paris von Wien bis jetzt schon vieles abgeschaut! Wenn wir nicht weiterhin in den lebenswerten Status dieser Stadt investieren, wird uns Paris aber bald überholt haben. (Wojciech Czaja, Magazin "Leben in Wien", 8.10.2020)