Freiheits- versus Schutzbedürfnis ist für Heinz Bude das Thema unserer Zeit.

Newald

In der Corona-Pandemie findet eine Neudefinition des Individuums in der Gesellschaft statt, meint Heinz Bude. Der Künstler Hans Traxler hat dem "Ich" in Kassel ein vieldeutiges Denkmal gebaut.

Foto: Imago

Es ist nicht leicht, ihn derzeit telefonisch zu erreichen. Und auch nicht leicht, den Überblick zu behalten über all die Projekte, in die er aktuell involviert ist. Der deutsche Soziologe Heinz Bude, Professor an der Universität Kassel, hatte gerade erst sein Buch Solidarität – Die Zukunft einer großen Idee (Hanser) veröffentlicht, als die Corona-Pandemie ihn als Zeitdiagnostiker forderte und seine Thesen auch gleich auf den Prüfstand stellte. Im Sommer wurde er nun damit beauftragt, ein Institut zur Erforschung der Kasseler Kunstausstellung Documenta zu begründen. Und gerade eben erschien bei Hanser sein gemeinsam mit Bettina Munk und Karin Wieland verfasster Roman Aufprall. Kein Wunder also, dass es im Gespräch mit dem STANDARD aus dem 66-Jährigen nur so heraussprudelt.

Was das Documenta-Institut leisten soll? Zunächst solle es darum gehen, diese 1955 gegründete "Mutter" aller Großausstellungen für Gegenwartskunst nach ihrer Bedeutung für die Gesellschaft zu befragen. "Was ist Gegenwartskunst überhaupt? Ist sie nur dann als solche zu bezeichnen, wenn sie mehr als Kunst ist? Wenn sie über die Kunst hinausgeht, in der Gesellschaft wirkt?" Drängend sei auch die Frage nach den geopolitischen Verstrickungen (Ost &West, Nord & Süd, Zentrum & Peripherie) oder natürlich, wie sich Kunst und Kapitalismus seit Gründung der Documenta zueinander verhielten: "Im gegenwärtigen Kapitalismus ist etwa wie in der Kunst die Frage des Werts zu einer Frage des Versprechens geworden. Denken Sie daran, dass Uber bis heute nicht profitabel wirtschaftet. Es gibt nur das Versprechen, dass es irgendwann profitabel sein wird." Insofern habe der Kapitalismus zahlreiche Charakteristiken des Kunstbetriebs in sich aufgenommen.

Rückkehr des Kollektivgedankens

Dass die letztmalige Documenta von 2017, durchgeführt an zwei Standorten in Kassel und Athen, hinterher in einem Finanzskandal endete, hält Bude in gewisser Hinsicht schon wieder für einen künstlerischen Akt: "Der Anspruch der Documenta 14 war, zu sagen: Wir kommen nur zu einem Begriff von Europa, wenn wir die Spaltung von Peripherie und Zentrum zu einem Thema von Ausbeutung machen. Dass dann die Überschuldung des Zentrums in Kassel passierte, ist an der Peripherie in Athen wiederum für sich zu einer künstlerischen Botschaft geworden."

Und die nächste Ausgabe 2022? Terminlich käme sie gerade recht, um künstlerisch über die Pandemie zu reflektieren. Aber Bude erwartet sich zu dem Thema nicht allzu viel: Es sei ja vielmehr so, dass das, was die Kunst jahrzehntelang einfordert, dass sich die Gesellschaft selbst hinterfragt, nun durch das äußere Ereignis der Pandemie eingetreten ist. Wie man darüber nun künstlerisch reflektiert?

Nicht unbedingt mit Denkmalsetzung (wie aktuell in Graz beschlossen), meint Bude, denn damit würde man eine Gegenwart, die noch gar nicht abgeschlossen ist, bereits wieder historisieren. Thema der nächsten Documenta sei vielmehr "ein heilender Aspekt", "eine Idee von Versammlung". Dass mit der vielköpfigen Künstlergruppe Ruangrupa erstmals ein Kollektiv die Documenta ausrichtet, sieht Bude zudem als Beweis dafür, dass kollaboratives Arbeiten im Vormarsch ist.

Wie auch bei seinem Roman Aufprall, der sich autobiografisch motiviert mit der alternativen Subkultur der 1980er-Jahre befasst. "Wir wollten sehen, was es bedeutet, diesen zusammen zu schreiben. Darin steckt natürlich die Idee des Kollektiven und damit eine Abkehr von der Denkwelt der letzten 50 Jahre, die sehr vom Individuum ausgegangen ist. Da ging es immer um den starken Einzelnen in der Gesellschaft. In der Pandemie machen wir nun aber die Erfahrung, dass der starke Einzelne letztlich eine Schwäche erfährt darin, dass er sich nur selbst erhalten kann, wenn er auf die Rücksicht der anderen vertrauen kann."

Nicht Marx, nicht Durkheim, sondern Camus

Überhaupt sieht Bude die Thesen seines 2019 erschienenen Büchleins über Solidarität durch die Pandemie eindrücklich bestätigt – fast prophetisch klingt tatsächlich sein Schlusssatz "Man weiß den Gewinn der Solidarität nur zu ermessen, wenn man die Einsamkeit kennt."

Die Kernthese Budes lautet, dass Solidarität heute nicht mehr über Kampf (wie bei Marx) und weniger über nüchterne Arbeitsteilung (wie bei Durkheim), sondern über die Einsicht des Individuums in seine eigene Verwundbarkeit hergestellt wird. Als Leitgestirn dieses dritten Wegs gilt Bude Albert Camus mit seinem Werk Der Mensch in der Revolte.

Solidarität sei zudem immer ein Wagnis, das es einzugehen gilt, noch bevor so etwas wie Vertrauen hergestellt werden kann. Darin unterscheide sich auch der auf Homogenität (Nation, Volk) beruhende exkludierende Solidaritätsgedanke, der seit einigen Jahren in der politischen Rechten Auftrieb erfährt. In der Pandemie, meint Bude, würden sich Teile dieser Kräfte – vom Maskenverweigerer bis zum Verschwörungstheoretiker – unter einem "archaischen Begriff von Freiheit" gegen die Krisenbewältigungsstrategien wenden. Für den neuen Solidaritätsschub aus Anlass des Schutzbedürfnisses, den Bude begrüßt, seien diese Gruppen ebenso gefährlich wie jene Machthaber, die versuchen, die Krise zur Durchsetzung autoritärer Gelüste auszunutzen.

Dass wir von einer Welt der Propagandierung von Freiheit in eine Welt der Propagandierung des Schutzes geraten sind, führe uns letztlich "zu dem maßgeblichen Thema der nächsten 20 bis 30 Jahre", meint der Soziologe: "Wie kann das Motiv der Freiheit mit dem Motiv des Schutzes zusammengehen?" (Stefan Weiss, 25.9.2020)