Eine der zwischen Unschuld und Laszivität changierenden Zeichnungen, die Andy Warhol 1956 für sein "Boy Book" schuf.

Foto: The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc

Für die letzte Ausstellung, die er noch selbst mitplante, nähte Andy Warhol 1987 vervielfachte Fotos aus den vergangenen Jahren zusammen. Etwa Mick Jagger beim Essen.

Foto: The Andy Warhol Museum, Pittsburgh; © Founding Collection, Contribution The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc.

"In the Bottom of My Garden´" nannte Andy Warhol diese Putten von 1956.

Foto: The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc./Licensed by Bildrecht, Wien, 2020

Die Suppendosen, die Car -Crashes, Elvise, Marilyns, Brillo-Boxen und in Siebdruckverfahren und Knallfarben wieder und wieder variierten Blumen, die seit der Ausstellung Misfitting Together (u. a. bestückt mit Werken Warhols) im Sommer den Pfad zum Mumok anzeigen: Wer kennt sie nicht schon zur Genüge? Warhol, ja, hat man gesehen. Andy, I know what you did!

Aber wusste man auch davon: 1956 porträtiert Warhol mit Kugelschreiber ganz zart Knabengesichter in unschuldigen bis lasziven Posen auf großen Papierbögen und nennt das Studies for a Boy Book. Zeitgleich skizziert er Penisse, denen er humorvoll Anzugwesten anzieht oder ein Geschmeide aus Juwelen umschnallt. Irgendwann landet die Obsession bei Füßen, um die ein wuscheliger Hund schleicht oder in deren Zehen eine Krabbe zwickt.

An diesen Füßen könnte aber auch einer der vielen knallbunten Damenschuhe der Serie À la Recherche du Shoe Perdu (Auf der Suche nach dem verlorenen Schuh) stecken. Oder wer kennt die Marbled Papers, die Warhol 1954 mit Schlieren und Schraffuren in luftigen Farben versah oder die Skizzenbücher, die er als einer der ersten dank Schablonen und Spraydosen mit Mustern füllte? Mit Abstraktion fing er später bekanntlich nicht mehr viel an.

Aus alt wird neu

Solche Arbeiten sind uns ziemlich neu – aber eigentlich sind sie die ältesten aus Warhols Œuvre. Denn sie stammen aus dem Frühwerk des späteren Pop-Art-Superstars, geschaffen als er um die 30 Jahre alt war und sich noch als Werbegrafiker verdingte, dessen Präsentation Warhol aber mit seinen ersten größeren Ausstellungserfolgen Anfang der 1960er untersagte. Konkret seit einer Ausstellung seiner Campbell’s Soup Cans in Los Angeles 1962.

Kuratorin Marianne Dobner hat dieses Frühwerk für die Schau Andy Warhol Exhibits – a glittering alternative im Mumok aufbereitet. Es bestehe zu 99 Prozent aus Zeichnungen, sagt sie. Warum Warhol sie zeitlebens nicht mehr zeigen wollte, dazu hat Dobner zwei Theorien:

Erstens, weil die oft tastenden und experimentierfreudigen Blätter nicht zu dem Popgenie passten, als das Warhol sich nun mit seinen im Jahresrhythmus wechselnden Serien von Brillo-Boxen (1963), Blumen (1964) oder den Disasters (1965) inszenierte. Andererseits war es stark homosexuell aufgeladen – und wurde Homosexualität zu der Zeit noch strafrechtlich geahndet. Vieles war also bereits in Warhols früher Schaffensphase nicht öffentlich gezeigt, sondern nur als Buchprojekte an Freunde verschenkt worden oder im Besitz des Künstlers geblieben, was es noch leichter machte, es weiterhin unter Verschluss zu halten.

Noch immer Überraschungen

Erst nach seinem Tod 1987 begann in den 1990ern das Andy-Warhol-Museum in Pittsburgh, dieses Oeuvre wieder zugänglich zu machen. Dass es immer noch für Überraschungen gut ist, zeigen die 26 Zeichnungen des Ladies’ Alphabet, die Gebaren und Aufmachung von Damen neckisch kommentieren: Dass auch drei Männer in Drag als Vorlage dienten, erkannte man erst jüngst.

Mit Warhol, wie man ihn kennt, haben die 120 Werke tatsächlich wenig zu tun. Doch deuten sie vieles schon an. So wird ein großes Interesse am Seriellen greifbar, noch bevor es zum bloß Repetitiven wurde. Für Dobner nehmen auch die gefaltet aufgestellten Marbled Papers den späteren Umgang mit den Brillo -Boxen vorweg, die Warhol so in den Galerien stapelte, dass die Besucher sich kaum mehr bewegen konnten. Schwule Motive werden auch weiterhin eine Rolle spielen wie in den Sex Parts von 1978, von denen keines ohne den Blick auf gespreizte männliche Pobacken oder einen erigierten Penis auskommt, und noch immer wird das unter Verschluss bleiben.

So ist es letztlich verständlich, dass man im Mumok ein Geschoß höher auf die späteren Phasen Warhols doch nicht ganz verzichten wollte. Man kann ein Auge zudrücken, denn der Zugang dazu ist auch nicht unspannend: Man nähert sich weniger und besser bekannten Werken quasi von hinten über die Art ihrer Präsentation an.

Glänzender Flop

Bei über 200 Einzelschauen zu Lebzeiten des Künstlers gibt es dafür reichlich Beispielmaterial. Etwa die silbernen Wolken aus Plastikfolie namens Silver Clouds. Sie stehen im Mumok für einen notwendig aktiven Umgang des Betrachters mit dem Werk. Denn wenn er nicht durch die am Boden liegenden Pölster wirbelt, schweben sie nicht, wie sie sollen. 1966 bei Leo Castelli in New York zuerst ausgestellt, waren sie zwar ein Publikumsmagnet, blieben aber – klar! – ein Verkaufsflop.

Sehr konkrete Vorstellungen hatte der Künstler auch zu seinen Videos. Dem Umstand, dass viele von ihnen in der Factory bei Partys im Hintergrund zu Musik liefen, kann man in einer tatsächlich beschwingenden Dunkelkammer leibhaftig nachspüren oder wenn man zu den Stummfilmen Blowjob und Kiss die Kopfhörer aufsetzt und FM4 loslegt.

Große Leinwände gibt es im Mumok fast nicht. Kleine Toy Paintings hing Warhol 1983 in einer Schau für Kinder auf deren Augenhöhe, da hängen sie auch im Mumok. Warhol also, wieder einmal. Wie hier kann man es machen! (Michael Wurmitzer, 25.9.2020)