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Für viele Menschen ist die Distanzierung nicht nur eine physische, sondern auch eine psychische.

Foto: REUTERS/Phil Noble

Wien – Die psychische Krise infolge der Corona-Pandemie sei massiv – aber gesprochen habe man bisher nicht über sie, sagt Michael Musalek. Angesichts der nach wie vor angespannten Situation sei das fatal.

"Viele Menschen leiden schwer. Sie brauchen Hilfestellungen hier und jetzt, denn nicht zuletzt schwächt der Psychostress auch das Immunsystem, was Infektionsgefahren erhöhen kann", sagt der ärztliche Leiter des Anton-Proksch-Instituts für Suchterkrankungen und Vorstand des Instituts für Sozialästhetik und psychische Gesundheit der privaten Sigmund-Freud-Universität (SFU) in Wien und Berlin.

Schon im Mai Probleme

Am Donnerstag präsentierte Musalek mit Psychiaterkollegen die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung über die seelischen Belastungen infolge der Virusverbreitung und der Maßnahmen zu ihrer Begrenzung. Zwischen dem 15. und dem 26. Mai 2020 hatte das Gallup-Institut im Auftrag der SFU 1.000 Menschen online interviewt: die erste und laut Musalek österreichweit bisher einzige Erhebung zu diesen Fragen. Im kommenden Frühjahr ist eine Folgeuntersuchung geplant.

Die Ergebnisse lassen auf schon vor dem Sommer bestehende beträchtliche Probleme in der Bevölkerung schließen. Ein Fünftel gab an, durch die Krise psychisch belastet zu sein. Alleinstehende, Familien mit unter 18-jährigen Kindern, Menschen in Städten mit mehr als 50.000 Einwohnern und Personen mit Einkommen unter 1.500 Euro monatlich lagen dabei über diesem Wert.

Zeichen einer Angststörung

40 Prozent der Befragten äußersten Zukunftsängste, 27 Prozent berichteten sogar von generalisierter Ängstlichkeit, einem typischen Anzeichen für eine Angststörung.

Jede und jeder Zweite gab an, durch die Krise von nahestehenden Personen getrennt worden zu sein. 58 Prozent der Interviewten meinten, dass ihre Selbstbestimmung in der Krise deutlich abgenommen habe – eine Folge der von der Bundesregierung beschlossenen Restriktionen und ihrer Konsequenzen wie etwa Homeschooling.

Mehr Alkohol und Zigaretten

Frauen und Männer sagten das zu gleichen Teilen, ein Drittel davon berichtete gleichzeitig über akute psychische Probleme; laut den Studienmachern eine hohe Korrelation.

14 Prozent sagten, in der Krise vermehrt Alkohol zu trinken, zwei Prozent sagten, sie hätten mit dem Trinken in der Krise überhaupt erst begonnen. Ein Drittel berichtete von gestiegenem Tabakkonsum; zwei Drittel beschrieben sich als besonders belastet.

Überforderung

Besonders auffallend sei der hohe Anteil von Menschen, die von Überforderungssymptomen berichteten –und hier vor allem Frauen, sagt Musalek: "39 Prozent berichten über gesteigerte Reizbarkeit im Alltag, 23 Prozent schilderten, dass sie bereits Kleinigkeiten aus der Ruhe bringen, 14 Prozent, dass sie den ganzen Tag schlechte Laune haben und im Kontakt mit Mitmenschen beleidigend sind."

Überraschend sei auch, dass die psychischen Probleme nur gering mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten korrelierten. Tatsächlich gaben im Mai nur 13 Prozent ökonomische Verwerfungen als Grund ihrer Verstimmungen oder Probleme an. Dieser Prozentsatz könnte sich aufgrund des Fortdauern der Wirtschaftskrise bis jetzt erhöht haben.

Psyche reagiert verspätet

Überhaupt: "Wirtschaftliche Probleme zeitigen erfahrungsgemäß erst nach einem halben oder gar einem ganzen Jahr psychische Folgen", sagte der Psychiater. Die Seele reagiere meist mit Verspätung auf Krisen.

Für den Herbst forderten die Experten daher die Sicherstellung der psychosozialen Versorgung, etwa in Gestalt einer psychosozialen Hotline, den Ausbau der Notfall- und Krisenintervention sowie Hilfen für Angehörige sogenannter Risikogruppen.

Keine Angstmache

Auch Politiker und Behördenvertreter müssten sich an der Nase nehmen, hieß er überdies. "In der öffentlichen Krisenkommunikation sollte genau darauf geachtet werden, uns Menschen immer wieder zu bestärken und zu motivieren", sagte der Gesundheitspsychologe Oliver Scheibenbogen von der Sigmund-Freud- Privatuniversität: "Entscheidungsträger dürfen nicht dem Irrglauben anheimfallen, dass das Heraufbeschwören von Bedrohungen ein adäquates Steuerungsmittel sei." (Irene Brickner, 25.9.2020)