Rassismus, der Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland, stechende Fragen im Kopf: Olivia Wenzel beschreibt in ihrem Debütroman 1000 Serpentinen Angst die Gedanken, Ängste und Wünsche einer jungen schwarzen und ostdeutschen Frau.

STANDARD: Ihre Protagonistin im Buch sagt am Anfang: "Alle wollen ständig mit mir über Rassismus sprechen, das ist doch nicht meine Lebensaufgabe." Wie sehr kommt dieser Satz aus dem Herzen?

Wenzel: Zu einhundert Prozent. Und dann ein Buch zu schreiben, in dem es um Rassismus geht, ist natürlich ein bisschen widersprüchlich. Ich glaube, ich habe diesen Satz 2016 aufgeschrieben, als ich den USA war. Da habe ich gemerkt, ich komme um eine breitere Auseinandersetzung mit dem Thema nicht mehr herum. Vorher hatte ich es kleinteilig angesprochen. Aber als Trump gewählt wurde, habe ich gemerkt, dass ich mich voll auf das Thema konzentrieren kann und muss, auch wenn ich Widerstände dagegen habe.

Olivia Wenzel, 1985 in Weimar geboren, studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis an der Uni Hildesheim. Sie lebt in Berlin und schreibt Theatertexte und Prosa und machte zuletzt auch Musik als Otis Foulie.
Foto: Juliane Werner

STANDARD: In einem anderen Interview haben Sie gesagt, Sie seien des Themas mittlerweile leid, weil es nur bei Debatten bleibe und nicht zu Lösungen führe.

Wenzel: Bei dem, was mich umgibt und was ich sehe, hat sich nichts verändert. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass es Vorschläge gibt oder dass den Worten Taten folgen. Seehofer macht, was Seehofer macht, Rechte machen, was Rechte machen, und es gibt nicht so viel, was sich dagegenstellt. Kleinere Initiativen, ja, aber nichts staatlich Gefördertes, nichts Großes, keinen grundsätzlichen Paradigmenwechsel. Man muss sich ja nur einmal die Beschreibung auf der Seite der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt durchlesen, da bekommt man ein gutes Bild von dem, was alles auf den Straßen passiert.

STANDARD: Gibt es denn ein Thema, über das Sie lieber reden würden?

Wenzel: Ich habe letztens gemerkt, dass ich selbst fast gar nicht mehr auf andere Themen komme. Das ist so eine Spiralbewegung, jemand fragt mich, wie es mir geht, dann rede und rede ich, und am Ende komme ich plötzlich bei George Floyd raus ... Im Moment denke ich viel darüber nach, wie ich mein Autorinnendasein noch kollektiver gestalten kann. Ich müsste ja beispielsweise nicht immer alleinige Fürsprecherin meines Buches sein; andere Menschen könnten ja auch erzählen, was das Buch mit ihnen macht, in Öffentlichkeiten. Und damit meine ich nicht das akademische Feuilleton, sondern zum Beispiel irgendwen, der eine Kochsendung hat. Und ich überlege gerade gern, wie ich mit guten Leuten rings um mein Buch und seine Rezeption etwas Spannendes inszenieren kann, das keine klassische Lesung ist. Außerdem: Warum ist dieser Betrieb so, wie er ist? Warum bin ich nicht auf der Shortlist? (lacht) Warum ist in dieser Branche immer alles so heilig und so wenig locker und dabei so konzentriert auf den vereinzelten Schreibenden?

STANDARD: Finden Sie klassische Lesungen langweilig?

Wenzel: Nein, das nicht. Vor allem, weil ich ja aufgrund der aktuellen Situation nicht viele gemacht habe, nur online. Wenn ich jahrelang nichts anderes gemacht hätte, dann wäre das aber wohl so. Aber ich merke, dass ich die Chance habe, in diesem Literaturbetrieb ein paar andere Formate vorzuschlagen, weil es noch nicht so viele gibt.

STANDARD: War das rückblickend eine doofe Idee, das Buch im März zu bringen?

Wenzel: Nein, eher eine gute. Am Anfang war es für mich persönlich praktisch, von daheim zu arbeiten, aber mittlerweile wäre ich schon ganz gerne einmal auf einer Buchmesse, Debütantenball oder so. Überall steht in Anfragen an mich, dass es leider nicht so ist wie immer, aber ich weiß ja gar nicht, wie es immer ist. Ich hätte diesen Betrieb gern im Normalzustand kennengelernt. Außerdem glaube ich, dass ich eine der wenigen war, die von der ganzen Situation profitiert haben. Viele Autorinnen und Autoren konnten ja nach dem März gar nicht mehr veröffentlichen; für kurze Zeit war meine Konkurrenz geringer, das Bedürfnis der Menschen zu lesen höher. Und auch durch die Black-Lives-Matter-Bewegung haben viele Leute eine neue Aufmerksamkeit für das Thema bekommen. Was natürlich etwas Doppelbödiges hat: Braucht es so etwas Grausames in den USA, auf Video aufgenommen, damit Menschen in Deutschland auf die Straße gehen und gegen Rassismus demonstrieren? Es hätte ja auch ohne Floyds Tod in Deutschland und auch Österreich genug Gründe gegeben, sich kollektiv zu organisieren. Und Rassismus wäre auch ohne Floyd ein beschissenes und wichtiges Thema, dem man sich dauerhaft stellen muss, nicht saisonal.

STANDARD: Ein wiederkehrendes Element Ihres Buchs ist die DDR. Sie sind 1985 in Weimar geboren, wie viel haben Sie von der Zeit noch mitbekommen?

Wenzel: Ich habe keine bewussten Erinnerungen. Es sind meist Fotos und Erzählungen, von denen ich glaube, dass ich dabei war. Was es sehr viel gibt, ist diese Art von Erinnerungskultur, die nicht mit dem Narrativ der glücklichen Wiedervereinigung zusammenhängt, sondern eher mit dem Wunsch nach einer Reform der DDR, "Sozialismus ist gut", und das in bestimmten Nuancen. Heute gibt es im ostdeutschen Teil meiner Familie immer noch die Auffassung, dass West- und Ostdeutsche grundsätzlich etwas unterscheidet. Ich empfinde das nicht so. Und in der Erinnerung zum Beispiel meiner Großeltern sind es fast immer materielle Dinge, die wichtig sind; deswegen ist auch meine Erinnerung davon geprägt. Und dann gibt es in meiner Familie auch Geschichten der Republikflucht und von Mitgliedern, die nach einer Familienfeier einfach nicht mehr zurückgekommen sind. Das war ein enormer Vertrauensbruch, man wusste ja nicht, ob man sich je wiedersieht. Deswegen merke ich auch gewisse Risse in der Familie bis heute.

STANDARD: Ich bin 1996 im Westen geboren und dort aufgewachsen. Wenn mich Leute im Ausland gefragt haben, wie es damals war, dann konnte ich nie darauf antworten, weil das für meine Generation überhaupt kein Thema mehr war. Einzig meine Großtante, die damals mit ihrer Familie aus der DDR geflohen ist, hat Geschichten erzählt, wie schwer es für sie war, die DDR- gegen die West-Ideologie auszutauschen.

Wenzel: Das ist eine sehr bewusste Reflexion. Das gibt es in meiner Familie nicht. Man hält sich an Objekten fest, man sagt, was gut war und was nicht. Aber ein Nachdenken, auch was es mit einem selbst gemacht hat, findet nicht wirklich statt oder wird zumindest nicht formuliert.

STANDARD: Im Buch erzählt die Protagonistin, wie sie versucht, ihre Großmutter davon zu überzeugen, keine rechte Partei zu wählen. Warum sind wir in Deutschland so? Oder warum sind wir so geworden?

Wenzel: Ich glaube, Deutschland ist schon sehr lange so, aber ich kenne natürlich nicht alle Gründe. Ich habe kürzlich eine Freundin getroffen, eine westdeutsche Frau in meinem Alter, und sie hat beschrieben, wie Teile ihrer Verwandten bei diesen Anti-Corona-Spaziergängen dabei waren und sie das auf Facebook gesehen hat. Und weil sie auch ihre kleinen Kinder dabeihatten, hat sie sich mit denen angelegt. Im Endeffekt hat die Schwester meiner Freundin sie rechten Trollen im Netz zum Fraß vorgeworfen. Die Schere zwischen links und rechts und die Unfähigkeit, andere Meinungen auszuhalten, wird auch innerfamiliär immer größer. Diese Eskalationsstufe liegt wohl auch an den sozialen Medien.

Olivia Wenzel, "1000 Serpentinen Angst". € 21,60 / 352 Seiten. S.-Fischer-Verlag, Berlin 2020
Foto: Der Standard

STANDARD: Ein wiederkehrendes Element ist die USA-Reise der Erzählerin. Kann man den Unterschied zwischen den USA und Deutschland mit dem Satz zusammenfassen "In New York gehe ich die Fifth Avenue entlang und esse unbefangen eine Banane"?

Wenzel: Könnte man, ja. Ich finde aber auch die Erkenntnis meiner Protagonistin wichtig, dass sie es zwar toll findet, dass sie in den USA unbefangener sein kann als in Deutschland und ihre Diskriminierungserfahrungen dort weniger zum Tragen kommen. Aber dass sie gleichzeitig darum weiß, dass Teil einer schwarzen US-amerikanischen Community zu sein oberflächlich und fast schon eine Illusion ist. Ich glaube, das ist so, weil in den USA eine ganz andere, brutalere Vorgeschichte herrscht. Es gibt diese Communitys auch in Deutschland, aber nicht in derselben Dringlichkeit. Aber gerade merke ich, dass ich es gar nicht so gut zusammenfassen kann, deswegen habe ich auch so viele Seiten vollgeschrieben. Es gibt keine festen Formeln, kein "Genau so ist das", sondern eher Verknüpfungen.

STANDARD: In dem Kontext sprechen Sie vom "doppelten Bewusstsein". Wie kann ich mir das vorstellen?

Wenzel: Das ist eher ein Konzept aus den USA. Mein Vater kommt aus Sambia, und er hat mir einmal eine Szene geschildert: Er war Vertragsarbeiter in der DDR, und im Bus wollten die Leute nicht, dass er sich zu ihnen setzt. Gleichzeitig hat er immer Platz gemacht, wenn eine ältere Dame kam, um nicht nur zu zeigen, dass er höflich ist, sondern auch, dass ein junger schwarzer Mann höflich ist. Genau das erlebe ich auch. Dass ich im Zweifelsfall höflicher bin als meine weiße Nachbarin, weil ich eine Minderheit repräsentiere. Sich selbst von außen sehen und ständig mehr zu repräsentieren als nur sich selbst, deshalb immer wieder zu hinterfragen, was man macht und wie man damit auf andere wirkt, das ist dieses doppelte Bewusstsein.

STANDARD: Die Hauptfigur verarbeitet unter anderem den Suizid ihres Zwillingsbruders. Und es gab einen Satz, der mich sehr getroffen hat: "Bin ich wichtiger, seit ich fort bin?", fragt der Bruder in ihren Gedanken. Ist man wichtiger, sobald man fort ist?

Wenzel: Auf jeden Fall. Wenn man sich das in einem weniger schmerzhaften Kontext anschaut, dann kenne ich sehr viele bindungsgestörte Menschen in Berlin, die, sobald sich eine Person unnahbar macht, größeres Interesse an ihr haben. Ich glaube, wenn so etwas wie der Tod mit ins Spiel kommt, ist das noch intensiver. Plötzlich gibt es diesen unendlichen Raum für Projektion. Was alles hätte sein können, ohne dass man es überprüfen kann. Auf der anderen Seite, und das wurde in einem schlechten Tatort einmal gesagt, ist Trauer Liebe, die heimatlos geworden ist. Die Liebe ist da, aber es gibt keinen Abnehmer mehr.

STANDARD: Wie würden Sie die Reaktionen auf Ihr Buch zusammenfassen?

Wenzel: Es lief alles richtig gut, bis die Shortlist kam. Ich habe heimlich damit gerechnet, dass ich draufstehen würde. Aber halb so wild. Verkäufe, Rezensionen, Übersetzungen – alles ist super gelaufen. Es haben auch Leute das Buch gelesen, von denen ich es nicht erwartet hatte. Es wird oft verschenkt, beispielsweise von Leuten in meinem Alter an ihre Eltern. Oder ich höre von 75-jährigen weißen Männern, dass sie es gelesen haben und weinen mussten, obwohl sie jahrelang nicht geweint hatten. Diese dialogische Form ist ziemlich fordernd; ich hätte erwartet, dass mein Buch zu lesen vor allem für ältere Menschen, die das schnelle Kommunizieren aus digitalen Räumen nicht so gewöhnt sind, zu anstrengend ist.

STANDARD: Ein letztes wiederkehrendes Element: Die Protagonistin vergleicht einen Snackautomaten mit ihrem Herzen und mehr: Was denken Sie, wenn Sie an einem Snackautomaten vorbeigehen?

Wenzel: Manchmal freue ich mich, wenn es besondere Sachen gibt, zum Beispiel Cheesecake. Manchmal ekle ich mich auch ein bisschen. Wenn, dann kaufe ich nur eingeschweißte Sachen. Aber ich gucke mir jeden Snackautomaten, dem ich begegne, sehr gerne an. (Thorben Pollerhof, ALBUM, 27.9.2020)