Ein Mann namens Richard Gärtner, 78 Jahre alt, Witwer, will nicht mehr. Er ist ziemlich gesund bis auf ein paar Alterszipperlein, es liegt also nicht an körperlichen Beschwerden. Seine Frau fehlt ihm sehr, sie ist vor drei Jahren gestorben, diesen Verlust kann nichts aufwiegen.

Herrn Gärtner interessiert kein Buch, kein Film mehr. Über sein Leben als Hinterbliebener sagt er: "Sie ist weg und ich bin noch da. Das ist nicht richtig." Herr Gärtner möchte sich das Leben nehmen, in freier Verantwortung, und möglichst ohne jemand zu behelligen. Er will sich also nicht vor einen Zug werfen oder von einer Brücke springen. Er wünscht sich eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital und benötigt dafür einen Arzt, der ihm das Medikament gibt.

Versuche, das Richtige zu befördern: Ferdinand von Schirach.
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Damit wird die Sache kompliziert: Denn macht sich ein Arzt, der eine solche Substanz verabreicht, nicht schuldig am Tod eines Menschen? Auch wenn dieser überzeugend beteuert, dass er aus eigener Entscheidung sterben will? Diese Frage stellt Ferdinand von Schirach mit seinem neuen Theatertext GOTT einem Publikum, das man sich als die gesamte Bundesrepublik Deutschland (und alle vergleichbaren Staaten) denken darf. Denn in einer repräsentativen Demokratie sprechen immer einige für alle.

In diesem Fall fingiert Schirach eine Sitzung des Deutschen Ethikrats, an deren Ende die Menschen in einem Theater oder im Geist dann auch alle Leser des Buches eine Frage beantworten sollen: "Halten Sie es für richtig, dass Herr Gärtner Pentobarbital bekommt, um sich töten zu können?"

Intellektueller Schaukampf

In vergleichbarer Form hat Ferdinand von Schirach schon einmal dem Publikum eine Frage vorgelegt. In Terror ging es darum, ob man einen Piloten für schuldig hält, der ein Flugzeug abgeschossen hat, von dem anzunehmen war, dass es für einen terroristischen Anschlag (mit potenziell viel mehr Opfern als den Unschuldigen an Bord) instrumentalisiert werden sollte.

Zu der Frage aus Terror gibt es eine Weltkarte mit Abstimmungsergebnissen. In China kam es in zwei Theatern mit insgesamt 21 Vorstellungen zu elf Freisprüchen bei einem Gesamtstimmenergebnis von 877 zu 855 – wer will, kann dieses verblüffend ausgeglichene Ergebnis für einen Qualitätserweis halten, dass Schirach die Alternativen ausgewogen präsentiert hat.

Allerdings gehen in den meisten anderen Ländern die Ergebnisse doch deutlich in Richtung Freispruch. Im Fall von Herrn Gärtner geht es nun nicht um ein Gerichtsurteil, sondern um ein moralisches. Einmal mehr aber präsentiert Schirach eine institutionelle Handlung als einen intellektuellen Schaukampf, in dem er zugleich Protokollant, Verhandlungsführer, Souffleur, Experte und Instanz ist.

Instanz ist er aufgrund des Vertrauensvorschusses als moralische Instanz, den er sich als Erzähler juristischer Dilemmata erarbeitet hat. Im Hintergrund der Debatte des Ethikrats sind zwei Entscheidungen aus der deutschen Politik zu berücksichtigen, eine des Verfassungsgerichts aus diesem Jahr, das als "radikal autonomieschützend" gelesen wurde – also, vereinfacht gesagt, für Herrn Gärtners Sterbewunsch spricht.

2015 hatte der Deutsche Bundestag beschlossen, dass Suizidbeihilfe einen Straftatbestand darstellt. Dieses Gesetz unter dem Einfluss der Kirchen wurde von vielen als Rückschritt empfunden. In der Sitzung des Ethikrats lässt Schirach zuerst einmal Herrn Gärtner selbst sprechen, er wird aber auch vertreten durch den Rechtsanwalt Biegler und durch eine Ärztin seines Vertrauens. Für relevante gesellschaftliche Gruppen oder Systeme sprechen eine Juristin, ein Ärztefunktionär und ein Bischof.

Ferdinand von Schirach, "GOTT. Ein Theaterstück".€ 18,50 / 160 Seiten. Luchterhand-Verlag, München 2020

Der Geistliche muss sich vom Rechtsanwalt tief in die Geschichte der Ethik geleiten lassen, bis er sich beinahe zu einer Konfession verleiten lässt: "Das Christentum, wenn man es ernst nimmt, ist die Religion des Leidens. Das ist schwer und passt nicht in die Moderne." Damit sind zwei Stichworte gefallen, die Schirach wichtig sind.

Sein Text ist als Exempel für moderne Entscheidungsfindungen angelegt, am Ende könnte man wissen, was man für "vernünftig und richtig" hält, zuerst müssen aber die wichtigen Standpunkte gehört werden. Spannend ist die Frage nach der Religion. Wer ist GOTT in diesem Buch? Naheliegend ist der Titel nicht, denn es geht ja darum, religiöse Ansprüche auf das Leben der Individuen so zu relativieren, dass sie nicht mehr mit der Autorität vorgebracht werden können, mit der zum Beispiel bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Selbstmörder als Sünder gesehen wurden.

GOTT (schon gar nicht in dieser "religiösen" Schreibweise) sind aber auch nicht die Ärzte. GOTT ist hier offenkundig der Autor selbst, der als Experte für das Allgemeine mit vielen Stimmen spricht, um das Wahre und Richtige zu befördern. Herr Gärtner kann sich Schirach als einem der wichtigsten Vertreter der bundesdeutschen Zivilreligion getrost anvertrauen. In Österreich gelten in diesen Fragen, wie eine Nachbemerkung im Buch zeigt, noch Gesetze älteren (konfessionsreligiösen) Zuschnitts. (Bert Rebhandl, 26.9.2020)