Angestellte in Logistikzentren des Onlineriesen Amazon werden von Algorithmen überwacht – und bei zu wenig Leistung von diesen auch gekündigt.

AFP/DANIEL LEAL-OLIVAS

Wenn ein Uber-Fahrer morgens in sein Auto steigt, dann wird er nicht von einem Vorgesetzten oder der Taxizentrale zu einem Fahrgast geschickt, sondern von einem Algorithmus. Die Uber-Algorithmen sind so etwas wie der heimliche Chef des Fahrdienstleisters: Sie setzen die Preise, verteilen Aufträge und berechnen die optimale Route.

So wie den Uber-Fahrern geht es Millionen anderen Arbeitern der Gig-Economy – egal ob sie auf dem Fahrrad Essen ausliefern oder Pakete zustellen. Algorithmisches Management nennt man die Delegation von Steuerungsaufgaben an Algorithmen.

Das Organisationsprinzip ist dabei nicht nur auf die Gig-Economy beschränkt. In Hotels diktieren die Algorithmen einer App dem Reinigungspersonal, welche Zimmer sie zuerst putzen sollen. In Callcentern analysieren KI-gestützte Spracherkennungssysteme die Stimme und Emotionen und weisen die Mitarbeiter an, das Sprechtempo zu erhöhen oder empathischer zu reagieren. Und in Büros tracken Algorithmen die Tastatureingaben oder messen in Echtzeit die durchschnittliche Antwortzeit bei E-Mail-Eingang. Es ist, als würde der virtuelle Chef einem ständig über die Schultern schauen. Der US-amerikanische Ingenieur Frederick Winslow Taylor stand Ende des 19. Jahrhunderts noch selbst mit der Stoppuhr in Fabrikhallen, um die Produktivität der Arbeiter zu messen. Heute braucht es keine aufwendigen Messreihen mehr – es genügen Computerprogramme.

Stupser vom Algorithmus

Mittlerweile gibt es zahlreiche Softwareanbieter, die Produktivitätsindikatoren wie etwa die Arbeitszeit oder die Anzahl versendeter E-Mails erfassen. Anwendungen wie Time Doctor setzen dabei auch auf Nudging-Techniken: Mitarbeiter bekommen einen Schubs, wenn sie zu viel Zeit auf Facebook oder Youtube verbringen. Auf dem Bildschirm poppt dann eine Erinnerungsmeldung auf: "Arbeiten Sie noch an …?"

Algorithmen sind nichts anderes als in Programmcode formulierte Handlungsanweisungen für Maschinen. Und wo Menschen wie Maschinen operieren, lässt sich das Kommando auch an Computer delegieren. In Amazons Logistikzentren werden die Angestellten, die sich schon selbst wie Roboter fühlen, pausenlos von automatisierten Systemen überwacht. Sie stellen fest, wo sie sich aufhalten, wie viele Pakete sie am Tag schaffen usw. Wer braucht noch eine Aufsicht, wenn es Algorithmen gibt?

Die automatisierten Systeme erkennen Ineffizienzen im Betriebsablauf, die einem Controller möglicherweise nie auffallen würden – zum Beispiel Trödeleien in der Kaffeeküche oder umständliche Lieferwege. Der Paketlieferdienst UPS hat bereits vor einigen Jahren einen Algorithmus entwickelt, der pro Tag eine Milliarde Datenpunkte sammelt und auf dieser Grundlage die optimale Route für die Lieferung errechnet. Soll das Paket auf dem Rückweg ins Logistikzentrum zugestellt werden? Oder schon bei der Vormittagstour? Bevor man sich darüber den Kopf zerbricht, hat der Computer bereits alle Szenarien durchgerechnet.

Entmenschlichung der Arbeit

Eigentlich sollte man meinen, dass ein diskreter, im Hintergrund operierender Algorithmus, der keine Launen und Emotionen hat, gegenüber einem Chef aus Fleisch und Blut bevorzugt wird. Ein Roboter erleidet am Montagmorgen keinen cholerischen Anfall. Doch bei nicht wenigen Angestellten löst das seelenlose Management Beklemmungen aus. Wie eine US-Studie zeigt, beklagen Uber-Fahrer die Überwachung am Arbeitsplatz, die mangelnde Transparenz der App sowie eine Entmenschlichung der Arbeitsverhältnisse.

Die Ethnografin Alex Rosenblatt schreibt in ihrem Buch Uberland: How Algorithms Are Rewriting the Rules of Work: "In mancherlei Hinsicht gibt es keinen großen Unterschied zwischen einem Computer, der Policies und Sprachregelungen vorgibt, und einem Chef, der dir sagt, was zu tun ist. Es kann sich aber anders anfühlen: Eine App, die Arbeitern Anweisungen erteilt, erzeugt eine psychologische Distanz zu der Vorstellung, dass einem der Chef über die Schultern schaut."

Durch die für die Gig-Economy charakteristische Aufspaltung von Arbeit in Mikroaufgaben gibt es wenig Kontakt zu Kollegen und damit kaum eine Möglichkeit, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Wo es nur eine App gibt, lässt sich auch kein Vertrauensverhältnis zu einem Vorgesetzten aufbauen. Dem Algorithmus ist es egal, ob man gerade einen schlechten Tag oder familiäre Probleme hat. Die Maschine schaut bloß auf den Output: Fahrten, gelieferte Pakete etc. Und sie handelt kompromisslos. So hat Amazons Algorithmus im vergangenen Jahr hunderte Mitarbeiter in Logistikzentren entlassen, weil diese die Produktivitätskriterien nicht erfüllt hatten. Mitarbeitergespräch? Fehlanzeige. Algorithmen machen kurzen Prozess. Dagegen hat ein menschlicher Chef durchaus ein offenes Ohr für seine Mitarbeiter und ihre Probleme – und kann ihnen eine zweite Chance geben. (Adrian Lobe, 5.10.2020)