Ein Bild an der Berliner East Side Gallery erinnert daran, wie am 9. November 1989, in der Nacht des Mauerfalls, die ersten Trabis in den Westen kamen. Elf Monate später war die deutsche Wiedervereinigung bereits vollzogen.

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Es geht tatsächlich ostwärts. Wer Eva und Marc Bendach besucht, muss aus Berlin hinaus, Richtung Polen, nach Strausberg in Brandenburg. Früher war dort das Verteidigungsministerium der DDR. Heute schätzen die 27.000 Einwohner, ebenso wie Besucher aus dem oft lauten Berlin, die Ruhe am See.

Natürlich dreht sich das Gespräch zunächst um Corona. "Wir haben bisher alles gut überstanden", sagt Marc. Er lächelt ein wenig süffisant und fügt dann hinzu: "Genug Klopapier hatten wir ja – dank Evas Ossi-Gen."

Ein Ossi-Gen? Und schon sind wir mitten im eigentlichen Thema. "Ja, ich weiß", meint Eva lachend, "ich kann nicht anders." Sie, die in der DDR aufgewachsen ist, hat damals auf vieles verzichten müssen. "Es herrschte oft Mangel, manche Waren gab es wochenlang nicht", erinnert sie sich.

Besonders unangenehm sei es gewesen, wenn kein Klopapier zu bekommen war. Als Ersatz gab es altes Zeitungspapier. "Das war so schrecklich und so prägend, dass ich Marc zu Beginn der Pandemie jeden Tag um Klopapier geschickt habe", sagt Eva.

"Das Hamstern haben wird dann aber in den Griff bekommen", beruhigt Marc mit Augenzwinkern. Doch die Episode habe einmal mehr gezeigt: "Man merkt auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch, dass wir unterschiedlich sozialisiert sind."

Eva, 48 Jahre alt, wuchs in der DDR auf, im brandenburgischen Petershagen. Der 54-jährige Marc hingegen wurde in Westberlin groß. Kennengelernt haben sich die beiden, als Eva nach der Wende in jenem Berliner Spital zu arbeiten begann, in dem auch Marc als Krankenpfleger tätig war. Heute pendeln beide täglich in die deutsche Hauptstadt.

Das Resümee über die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 fällt bei Eva positiv aus: "Es ist toll, dass es die Einheit gibt, denn ohne sie hätte ich Marc nicht kennengelernt." Was das Privatleben betrifft, denkt Marc wie seine Frau. Aber er sagt auch: "Es gibt keine Einheit – weder finanziell noch emotional."

Auch bei der Erinnerung an früher zeigen sich Meinungsunterschiede. "Für mich war die DDR einfach grau und trist", sagt Marc. Wenn er mit seinen Eltern früher von Berlin nach Italien oder Berchtesgaden fuhr, dann ging es zunächst ja erst einmal durch die "Zone".

Er fragt sich nach wie vor: "Wie konnten die Leute dort leben in dieser Unfreiheit und Enge?" Noch immer verspürt er, der Wessi, "Wut" auf dieses System und die Stasi.

"Ich kann diese Wut nicht nachvollziehen", entgegnet Eva und erzählt von ihrer Jugend: "Wir hatten immer Essen auf dem Tisch und haben auch Urlaub gemacht. Und ich war auch nicht unterdrückt." Evas Eltern arbeiteten für die Nationale Volksarmee. Dass die Familie daheim Westfernsehen schaute, sollte sie lieber nicht in der Schule erzählen.

Aber eingeschränkt habe sie sich nicht gefühlt. Das ist für Marc manchmal nicht nachvollziehbar: "Ihr durftet das Land nicht verlassen. Dass ein Staat seinen Bürgern vorschreibt, wohin sie reisen können und wohin nicht, das ist nicht akzeptabel."

90 Pfennige für ein Brot

"Ach komm", entgegnet Eva, "jetzt, im Frühjahr, konnten wir auch wegen der Corona-Pandemie nicht weg." Außerdem: "Wir hatten den Ostsee und den Harz, es wollten in der DDR einfach gar nicht alle ausreisen."

Eva erinnert an ein System, das auch viele positive Seiten hatte: "In der DDR kostete das Brot 90 Pfennige, alle hatten eine Ausbildung, niemand blieb auf der Strecke."

Dies hört man oft von Menschen, die in Ostdeutschland groß geworden sind. "Viele haben das Gefühl, dass ihnen mit der Wiedervereinigung ein Teil ihrer Identität genommen wurde und dass sie sich für ihr Leben in der DDR rechtfertigen müssen", sagt Jana Faus. Die Sozialwissenschafterin erstellte mit ihrer Berliner Agentur Pollytix für die Bertelsmann-Stiftung eine Studie zur Ost-West-Befindlichkeit, 30 Jahre nach der Einheit.

Ein Fazit: Nach wie vor fühlen sich 60 Prozent der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse. "Westdeutsche meinen immer noch mit großer Selbstverständlichkeit, die Ossis sind zu uns gekommen, also müssen sie sich auch anpassen", sagt Faus.

Minderbemittelte Zootiere

In den Tiefeninterviews für die Studie wurde immer wieder deutlich, dass sich die Westler als Platzhirsche fühlen. Selbst von Jüngeren, die die DDR gar nicht gekannt haben können, hörte Faus Aussagen wie: " Ach, die im Osten sind doch eigentlich ganz clever, auch wenn der Akzent komisch ist." Faus: "Ostdeutsche werden von Westdeutschen gelegentlich wie ein minderbemitteltes Zootier angeschaut."

Erstaunt hat sie, dass aber auch 21 Prozent der Westdeutschen sich als Bürger zweiter Klasse gegenüber den Ostdeutschen fühlen. Tenor der Klage im Westen: "Wir haben euch freigekauft, wir haben die Einheit finanziert, aber keiner hat sich je bedankt."

Für Faus ist das ein Beleg dafür, dass Wessis und Ossis viel mehr miteinander reden müssen, um sich besser zu verstehen. Dass sich immer noch so viele Ostdeutsche zweitklassig fühlen, liege nicht nur an messbaren Benachteiligungen wie geringeren Löhnen und Pensionen, sondern auch daran, dass von der DDR fast nichts übrig geblieben ist.

"Die haben uns sogar unsere Gurken weggenommen", hörte Faus einmal. Ob Schokolade oder Hautcreme, im wiedervereinigten Deutschland waren Ostprodukte plötzlich nichts mehr Wert. Allerdings trugen dazu die Ostdeutschen selbst auch bei. "Test the West", hieß es, alle wollten VW und Coca-Cola, keiner mehr Trabi und Club-Cola. "Vielen war natürlich nicht klar, dass auch ihre individuelle Kaufentscheidung zum Zusammenbruch der Wirtschaft führte", sagt Faus.

Politische Melancholie

Heute meinen 84 Prozent der Ostdeutschen, manches habe in der DDR besser funktioniert und hätte übernommen werden sollen. Im Westen sind nur 48 Prozent dieser Ansicht. Auch Eva erinnert an die flächendeckende Kinderbetreuung und die Polikliniken – Versorgungszentren mit mindestens fünf medizinischen Fachrichtungen."Es gab schon gute Einrichtungen", räumt Marc ein. Aber: "Man konnte wohl nicht einzelne Dinge der DDR in ein neues politisches System mitnehmen und integrieren."

Eva sagt, sie fühle sich nicht als Bürgerin zweiter Klasse, vermisse die DDR aber auch nicht und sei stolz, Ossi zu sein. Für sie bedeutet das: "Wir waren kreativ, wir haben es geschafft, aus dem Wenigen etwas zu machen." Sie erzählt von Ohrringen aus Büroklammern, um die Kreolen zu kopieren, die im Westen in den Achtzigerjahren in waren. Marcs Konter: "Klar, wenn man Menschen in Armut leben lässt, müssen sie improvisieren."

Und wann wird es die Debatte über die Unterschiede in Ost und West nicht mehr geben? Marc ist sich sicher: "Das wird noch mindestens drei Generationen dauern." Eva hingegen verweist auf die gemeinsame 21-jährige Tochter, die mit dem " Ost-West-Thema nichts mehr am Hut hat" und meint: "In ein, zwei Generationen sind wir damit durch." (Birgit Baumann, 26.9.2020)