Dominik Nepp ist erstmals Spitzenkandidat in Wien. Hoch gewinnen wird er die Wahl für die FPÖ nicht: Den Freiheitlichen, die 2015 mit H.-C. Strache knapp 31 Prozent erreichten, droht ein dramatischer Absturz.

Wochenlang haben STANDARD-Reporter die Wahlkämpfer beobachtet und Bemerkenswertes aufgeschrieben. Lesen Sie hier unsere Langzeit-Beobachtungen der Kandidaten vor der Wien-Wahl am 11. Oktober.

Bierzelt, Bühne, Band. Es ist tatsächlich fast so, als würde es Corona hier in Simmering nicht geben. Zumindest nicht am 19. September. Die Bierbänke beim FPÖ-Fest sind an diesem Samstagnachmittag am Wiener Enkplatz dicht besetzt. Im offenen Zelt wird geschunkelt, getrunken, gewachelt. Fahnen gibt es zuhauf – auch viele rot-weiß-rote, die in die Höhe gestreckt werden. Schutzmasken? Sicherheitsabstand? Fehlanzeige.

Dominik Nepp nähert sich dieser Szenerie eher zaghaft an. Der Spitzenkandidat der Wiener FPÖ und Vizebürgermeister ist einer der Stargäste und wartet am Eingang artig darauf, dass ihn die freiheitliche Haus-und-Hof-Combo John-Otti-Band ankündigt und ins Zelt holt. Im legeren blauen Sakko, in Sneakers und ohne Krawatte erfüllt er bis dahin ein paar wenige Selfie-Wünsche und schüttelt freundlich Hände. Die Aura, dass er alleine schon bei seinem Erscheinen die vollständige Aufmerksamkeit der Masse auf sich zieht, umwabert Nepp aber nicht. Geduldig wartet er auf seinen Moment.

Dominik Nepp führt einen FPÖ-Wahlkampf wie damals vor Corona.
Foto: Christian Fischer

Auftritt Herbert Kickl. Der freiheitliche Klubchef rauscht ohne Vorankündigung ins Festzelt. Es dauert nur Sekunden, bis er erkannt wird. Die Leute springen auf, Jubel, High fives hier und dort. Die John-Otti-Band muss ihren Coversong – passenderweise Sound of Silence von Simon & Garfunkel – abbrechen. Jetzt funktioniert nur mehr Wir sind eine große Familie. Sänger Werner Otti schreit: "Herbert Kickl, auf die Bank! Damit wir ihn alle sehen!"

Herbert Kickl auf der Bank.

Auf und nieder, immer wieder

Kickl folgt aufs Wort. Nur ein paar Augenblicke später wird Katharina Krammer, FPÖ-Bezirksvorsteher-Vize in Simmering und Moderatorin des blauen Nachmittags, zu den aufgesprungenen Gästen sagen: "Bitte seids so lieb und setzt euch hin. Wir haben ja Corona und ein paar Auflagen." Zwischen dem Sagen und dem Tun ist dann doch oft ein großer Unterschied.

Dominik Nepp hat sich damit abgefunden, dass es bei seinem Auftritt in Simmering lange nicht so laut und euphorisch ist. Haupt-Acts sind hier die Ex-Minister Herbert Kickl und Norbert Hofer. Und Lokalmatador ist Paul Stadler, zu dessen Ehren es das FPÖ-Fest gibt. Er ist seit 2015 der erste und bis dato einzige freiheitliche Bezirkschef Wiens, der um seine Wiederwahl bangt. Nepp ist sich dessen bewusst, dass er wohl nur wegen Ibiza diesmal FPÖ-Spitzenkandidat in Wien geworden ist.

Simmerings blauer Bezirksvorsteher Paul Stadler mit Dominik Nepp und Herbert Kickl.
Foto: Christian Fischer

Aber Nepp kämpft zumindest. Bei seinem Einmarsch ins Zelt, der von der Band angekündigt wird, wartet er nicht auf entgegengestreckte Hände, sondern geht selbst in die Offensive. Jenen, die ihm, ob bewusst oder unbewusst, gar nicht auf halbem Wege mit ihrer Hand entgegenkommen, streicht er schnell über die Schulter. Das Lächeln, das Nepp dabei zeigt, wirkt dennoch künstlich herausgepresst. Der Mittelpunkt ist noch nicht Nepps natürliches Habitat.

"Ich werde niemals einen freiheitlichen Handschlag verwehren", sagt Dominik Nepp

Absturz droht

Nachdem sich Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus auf der Baleareninsel politisch weggesprengt hatten, stand plötzlich Nepp, bis dato ein loyales Schattengewächs hinter der FPÖ-Spitze, in der Sonne. Bei der Wien-Wahl am 11. Oktober bleibt der bisherigen Nummer drei aus Döbling aber nur, ein drohendes Desaster für die FPÖ in ein minderes Debakel zu drehen. Umfragen sehen die Freiheitlichen von knapp 31 Prozent im Worst Case auf rund zehn Prozent abstürzen.

Um das zu verhindern, setzt der 38-jährige Vater zweier Töchter inhaltlich die Strache-Gudenus-Linie nahtlos und unbeirrt fort. Beim Wahlkampfauftakt der FPÖ am 10. September beim Meiselmarkt im 15. Bezirk trommelt er in seiner Rede vor allem das Ausländerthema in all seinen Facetten. Das klingt weniger grobschlächtig als bei seinem Mentor Gudenus. Dass das Motto bei der Asylpolitik "Heimreise statt Einreise" zu lauten habe, dass die FPÖ die einzige Partei ist, "wo der Staatsbürger wieder etwas zählt": Das hat man aber alles schon einmal so ähnlich gehört.

Nepp beim FPÖ-Wahlkampfauftakt trotz Corona-Zeiten vor mehreren hundert Gästen.
Foto: Christian Fischer

Bestimmt und unaufgeregt

Die Abgrenzung von Strache ist nicht, dass er von "Messer-Tschetschenen" oder "Messer-Afghanen" spricht. Es ist die Art, wie er es sagt. Bestimmt, aber nicht übermäßig aufgeregt, sodass sich die Stimme niemals überschlägt.

Das ändert sich auch nicht, als er auf der Bühne eine persönliche Geschichte in eine politische Botschaft verpackt. Der kürzlich mit 104 Jahren verstorbene Großvater Nepps habe als 101-Jähriger nach einer Schnittverletzung an der Fingerkuppe fünf Stunden im Krankenhaus aufs Annähen warten müssen. Und daneben seien 2016 "Asylanten auf der ‚fast lane‘ durchgelotst worden", erzählt Nepp.

Das wird von der blauen Zielgruppe akklamiert. Schräg ist nur, dass er beim Wahlkampfauftakt nicht das letzte Wort auf der Bühne hat. Das ist Hofer vorbehalten.

Recycelter Wahlkampfsong

Die John-Otti-Band hat Nepp in blauer Tradition auch einen Wahlkampfsong verpasst. Der wurde beim Wahlkampfstart uraufgeführt. "Bleib mei Heimat, du mei Wien", heißt es da mit Nepp groß im Video. Und: "Für immer und ewig!"

Nur blöd, dass schon Strache mit der exakt gleichen Melodie der John-Otti-Band für die FPÖ in den Wahlkampf etwa für die Nationalratswahl 2017 oder die Wien-Wahl 2015 zog. Damals noch mit den Textzeilen "Immer wieder Österreich." Gefolgt von: "Für immer und ewig." Youtube vergisst nicht.

Lauthals mitgesungen hat Nepp bei seinem Song nicht, eher verstohlen. Das war beim Meiselmarkt so – und auch in Simmering. Da sang und fahnenwachelte die nicht amtsführende Stadträtin Ursula Stenzel inbrünstiger mit. Dabei war der schlagende Burschenschafter einst in der Universitätssängerschaft "Barden zu Wien". Eine Vereinigung, bei der auch Identitäre Mitglied waren. Nach seiner Zeit, wie Nepp betont.

Auch der FPÖ-Bär tauchte wieder auf.
Foto: Christian Fischer

Beim Wahlkampfsong offenbart sich am augenscheinlichsten das Dilemma des blauen Lagers, dessen Appetit auf Selbstzerstörung in regelmäßigen Abständen mit Parteiabspaltungen hervortritt. Wenn sich schon die FPÖ nicht um deutliche Abgrenzung vom langjährigen Parteifrontmann Strache bemüht: Wie sollen dann die Wähler wissen, wo sie wirklich daheim sind?

Strache als Lord Voldemort

Nepp scheut bei seinen Reden und TV-Auftritten den Namen Strache jedenfalls wie der Teufel das Weihwasser. Oder, weniger klerikal ausgedrückt: Strache ist der Lord Voldemort der Wiener FPÖ. Der, dessen Name abseits von Ermittlungen und Gerichtsverfahren tunlichst nicht mehr ausgesprochen werden soll. Am Meiselmarkt und in Simmering ist Strache bei Nepps Auftritten kein Thema.

Das kann man aus Sicht der Freiheitlichen nachvollziehen. Schließlich kämpft Strache mit seiner Liste THC um Wähler, die ihn 2015, 2010 oder vielleicht sogar 2005 gewählt haben, damals eben noch für die FPÖ. Strache und Nepp konkurrieren, auch wenn ihre Parteien dieselben Inhalte haben und denselben Wählerpool ansprechen.

Für Nepp ist diese Ausgangsposition gefährlich, weil auch die Wiener ÖVP ("Das rot-grüne Wien ist Sozialmagnet") offensiv reingrätscht und um blaue Stimmen buhlt. Der Spin der FPÖ lautet daher: "Jede Stimme für Strache ist eine verlorene Stimme, weil er die Fünf-Prozent-Hürde für den Einzug in den Gemeinderat niemals packt."

Nepp vor FPÖ-Wahlplakaten.
Foto: APA / Herbert Neubauer

Aber was ist dann in der FPÖ unter Nepp neu? Die Wortkreation "Asylantenvirus" ist ihm etwa in der Corona-Pandemie passiert. Und er habe das System Strache gestoppt, wird Nepp bei Interviews im Wahlkampf – wenn er auf seinen Vorgänger angesprochen wird – nicht müde zu betonen. Er meint den Spesenskandal und damit ein mutmaßliches Leben mit Privilegien durch falsch vorgelegte Spesen auf Parteikosten. Was Nepp nicht dazu sagt: Er war selbst im betroffenen Zeitraum vier Jahre lang Finanzprüfer der Wiener FPÖ. Der Spesenskandal wirft also auch ein schiefes Licht auf den Prüfer. Und Strache hat Nepp auf Ehrenbeleidigung und Kreditschädigung geklagt.

In der Partei selbst ist das aber kein Thema. Nepp, der designierte Parteichef, mache seine Sache den widrigen Umständen zum Trotz gut, heißt es. Die offizielle Kür auf einem Parteitag steht aus. Ob Nepp ein prognostiziertes Minus von 15 bis 20 Prozentpunkten nach der Wahl politisch überlebt, steht freilich auf einem anderen Papier geschrieben.

Nah sind sich Dominik Nepp und HC Strache im Wahlkampf noch nicht gekommen. Im Wiener Rathaus teilen sich beide Parteien ein Hinweisschild
Foto: Heribert Corn

Nepp folgte Gudenus

Dass sich Spitzenkandidat Nepp von seinen Vorgängern Strache und Gudenus vollständig emanzipiert, wäre sich auch gar nicht ausgegangen. Nepp folgte Gudenus 2009 an der Bundesspitze des Rings Freiheitlicher Jugend (RFJ). Nepp folgte Gudenus 2015 als Klubchef der Wiener FPÖ. Nepp folgte Gudenus 2018 als Wiener Vizebürgermeister. Der Rest ist Geschichte.

Mittlerweile, so heißt es aus Parteikreisen, soll zwischen den beiden Mitgliedern der Burschenschaft Aldania nach Ibiza wieder ein freundschaftliches Verhältnis herrschen. Bei Konkurrent und Burschenschafter Strache sieht die Sachlage naturgemäß anders aus.

Im Wahlkampf setzt Nepp auf eine riskante Strategie. Egal ob beim Oktoberfest in Favoriten, dem Zeltfest in Simmering, bei FPÖ-Sommerevents in der Donaustadt oder bei Standlaktionen und Beislbesuchen in ganz Wien: Nepp schüttelt Hände. Hunderte. "Ich werde niemals einen freiheitlichen Handschlag verwehren", lautet die Botschaft Nepps dazu. Er positioniert die Freiheitlichen mit Körpereinsatz als "Gegengewicht zum Corona-Wahnsinn", die Schutzmaske bezeichnet er als "Regierungsburka". Das kommt beim blauen Wahlvolk sichtbar gut an. Und in dieser Rolle fühlt sich Nepp auch wohl.

"Türken-Bürgermeister Ludwig"

Auf Facebook postet er für seine 100.000 Follower Slogans vom "Türken-Bürgermeister Ludwig", der "tief im Erdogan-Sumpf" stecke. Auf Instagram zeigt er inmitten der FPÖ-Spitze eine Kranzniederlegung: "Ein stilles Gedenken an die heldenhaften Verteidiger Wiens gegen die Türken anno 1683". Das ist durchkomponiert, hat System, wenngleich die Aufmachung der FPÖ-Truppe mit Nepp, Stenzel oder Maximilian Krauss einer schrägen Art von Kameradschaftsbund gleicht.

Nepp hat am Gymnasium Billrothstraße maturiert. Einen viersemestrigen Lehrgang an der FH Campus Wien in "Political Management" hat der Döblinger berufsbegleitend abgeschlossen, die Familienfirma ist ein Papierfachhandel. Auf seiner Homepage schreibt Nepp: "Aufgewachsen in einer Unternehmerfamilie mit einem erfolgreichen Handelsunternehmen werde ich nie als reiner ‚Berufspolitiker‘ auf Sesseln kleben." Er mache das, solange er "Freude an der Politik habe und Sinn in meinem Wirken erkenne".

Foto: Christian Fischer

Beim FPÖ-Zeltfest in Simmering steigt die Stimmung an diesem Nachmittag weiter. Bezirkschef Paul Stadler wird eine Schiffskapitänsmütze geschenkt, es gibt "Pauli! Pauli!"-Sprechchöre. Ein Besucher schreit lauthals nach vorn zur Bühne: "Dominik, putz den Ludwig weg!" Das sanfte Lächeln von Nepp als Reaktion darauf wirkt diesmal nicht gequält, sondern ehrlich. (David Krutzler, 27.9.2020)