Wieder einmal war den Medien zu entnehmen, dass es für den Schultyp AHS grundlegende Änderungen bei der Mathematik-Matura geben wird. Neben der Durchschnittsbildung aus Jahres- und Maturanote wird nun auch gegen den Modus Operandi der 2020-Corona-Maturanten vorgegangen, die bei der schriftlichen Matura zum Haupttermin nur leere Zetteln abgegeben hatten. Dazu hatte ich bereits in einem Blogbeitrag Stellung genommen.

Als weitaus spannender sehe ich als langjähriger Nachhilfelehrer die Agenda für die Matura 2026: Dort sollen dann grundlegende Rechenaufgaben in Paper-and-Pencil-Manier bewältigt werden. Ab diesem Punkt wird es für mich immer schwieriger Realität und Satire zu unterscheiden: Jahrelang haben wir den Oberstufenschülern abtrainiert, etwas mit der Hand zu rechnen. Typischerweise musste ein CAS-fähiger Taschenrechner zu Beginn der 6. Klasse angeschafft werden, der – neben einer Vielzahl an ungenutzten Funktionen – vor allem durch seine SOLVE-Funktion (sprich: Löse-Funktion) hervorsticht.

Rein theoretisch wird das händische Rechnen ja auch erlernt. In der Praxis jedoch verkommt diese Fähigkeit, da das bloße Rechnen nahezu nichts mit mathematischen Grundkompetenzen zu tun hat. (Diese Auffassung ist für Außenstehende oft schwer zu verstehen.) Falls also irgendwas zu rechnen wäre, dann löst der CAS-Rechner Gleichungen wie auch Gleichungssysteme aller Art. Niemand würde da zu Papier und Bleistift greifen. Ich sehe es bei meinen Schülern immer wieder: Selbst einfache lineare Gleichungen werden bequem vom Taschenrechner erledigt. Finde ich es gut: Nein. Kann ich es aus Schülersicht nachvollziehen: Ja.

Tolle neue Idee

Jetzt ist anscheinend irgendwer im Ministerium auf die Idee gekommen, die Fahnen der ehemaligen mathematischen Tugenden wieder hoch zu halten. Grundsätzlich ist dieser Schritt zu befürworten. Völlig offen ist jedoch, in welcher Intensität diese Beispiele auftreten werden. Einen bloßen Spaziergang mit völlig grundlegenden Beispielen als Teil einer schriftlichen Matura wird es wohl kaum geben. Sobald aber diese Paper-and-Pencil-Aufgaben ein Stück weit interessanter werden (zum Beispiel dieses Schmankerl aus einem Aufnahmetest aus Oxford) wird es höchstwahrscheinlich wieder an einer echten Vorbereitung dafür fehlen. Warum? Weil erstens der Matheunterricht seit jeher zeitlich unterdimensioniert ist und weil zweitens die Lehrer in der verbleibenden Zeit nicht auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig tanzen können. Und wenn doch, dann überall nur sehr kurz.

Bald soll die Mathe-Matura neu neu kommen.
Foto: EPA/Lech Muszynski

Die neue Matura ist grundsätzlich in Ordnung

Wie ich auch schon in früheren Beiträgen angemerkt habe, wird das Ressourcenproblem im österreichischen Mathematikunterricht an der AHS bestehen bleiben. Für die alte Matura (also ganz früher) hat die reine Stoffvermittlung quasi ausgereicht. Schema-F-Beispiele wurden geübt und man bestand die schriftliche Matura. Mit Einführung der neuen Matura mussten die Schüler nicht nur rechnen können, sondern auch mathematische Zusammenhänge (sogenannte Grundkompetenzen) von allen Seiten her verstehen und diese in neuen Kontexten anwenden können. Schema-F ging hier nicht mehr.
 
Ich bin grundsätzlich ein Befürworter dieser neuen Matura. Aber wie sollte das alles nun im Unterricht mit seinen wenigen Wochenstunden Platz haben? Und wie sollten Lehrer diesen Spagat schaffen?

Matheunterricht als Balanceakt

Mit der Zeit hat sich meine damalige Vorahnung bestätigt. Es wurde Platz geschaffen: Parabeln, Ellipsen, Hyperbeln und meistens auch Kreise wurden begraben. Damit auch die klassischen Extremwertaufgaben. Genauso sind Folgen und Reihen ein reiner Nischenstoff geworden. Sprich: Der Mathestoff der Oberstufe blieb am Papier zwar gleich, aber in der Praxis wird vor allem der Maturastoff abgedeckt. Und natürlich wurde durch die Verwendung technischer Hilfsmittel Zeit gespart. „Das macht dann GeoGebra!“, höre ich immer wieder. Natürlich macht das GeoGebra, aber nur wenn man es bedienen kann! Hier fehlte es immer schon an grundlegenden Infos für die Schüler und vor allem an ehrlicher Übungszeit. Oder glaubt irgendwer daran, dass ein einmaliger Crashkurs zum Beginn der 6. Klasse irgendwem nützt, wenn das Programm erst zwei, drei Semester später richtig zum Einsatz kommt? Mit Bedarfsorientierung hat das nichts zu tun.

Der Mathematikunterricht in der AHS-Oberstufe ist also zum Balanceakt geworden, damit als Kompromiss alles irgendwie vorkommt (händisches Rechnen, Verstehen und Beurteilen, Anwenden in verschiedenen Kontexten, Beherrschen von technischen Hilfsmitteln). Platz für ausgiebiges Üben wie auch das Eingehen auf Fragen kann sich nach Adam Riese wohl kaum ausgehen. Anstatt mehr Ressourcen und bessere Förderung in den Schulen anzubieten, wird lieber am Maturadesign geschraubt, bis möglichst viele Schüler die Matura am besten gleich auf Anhieb bestehen. Das wäre dann der politische Erfolg, oder? (Rainer Saurugg, 2.10.2020)

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