Seit die Black-Lives-Matter-Bewegung in Amerikas Städten ihre Faust gegen Polizeigewalt und soziale Unterdrückung erhebt, meinen einige meiner Kollegen in Europa, ich säße im Auge des kommenden sozialen Umsturzes. Warum? Weil ich in Atlanta lebe: dem Hort der Bürgerrechtsbewegung, jener Metropole im Süden der USA, die den Beinamen Black Mekka trägt. Ein Missverständnis, das nach Aufklärung verlangt.
Tatsächlich ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung von Atlanta schwarz. Hier gibt es eine robuste schwarze Mittelklasse, eine beträchtliche Zahl schwarzer Millionäre, erfolgreiche schwarze Geschäftsleute und Künstler. Atlanta ist ein Zentrum des Hip-Hop; der schwarze Filmproduzent Tyler Perry hat in Atlanta sein Entertainment-Imperium errichtet. Hier gibt es schwarze Universitäten. Die Bürgermeister der Stadt sind seit Jahrzehnten schwarz.

Zugleich klafft in Atlanta die Einkommensschere weiter auseinander als in jeder anderen Metropole der USA, wie ein Bloomberg-Report feststellte. Soziale Ungleichheit schlägt tiefe Schneisen durch die Stadt. Weiße, Schwarze und Hispanics leben hier immer noch in weitgehend voneinander getrennten Wohngebieten.
Gespaltene afroamerikanische Community
Auch in Atlanta zogen im Frühsommer die Aktivisten von Black Lives Matter durch die Straßen. Dennoch wurde Atlanta nicht zur Hochburg der Protestbewegung – und das, obwohl die Stadt mit dem Kampf für Bürgerrechte verbunden ist wie kaum eine andere: Hier wurde der Baptistenprediger Martin Luther King geboren, von hier aus organisierte er die Märsche, hier wurde er begraben. Obwohl – oder vielleicht gerade: weil?
Am Beispiel Atlanta wird deutlich: Nicht nur die amerikanische Gesellschaft als Ganzes ist tief gespalten; auch die afroamerikanische Community, die knapp 13 Prozent der US-Bevölkerung ausmacht, ist alles andere als ein monolithischer Block.
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Das Schisma zwischen den schwarzen Eliten und unterprivilegierten Afroamerikanern ist tief in die Sozialgeschichte der Stadt eingewoben. Nach Ende des Sezessionskrieges, als Atlanta in Asche lag, entschieden sich viele ehemalige Sklaven, an dem wirtschaftlichen Boom, der häufig Krieg und Zerstörung folgt, teilzuhaben. Der Preis dafür war, dass die aufstrebenden Afroamerikaner das System der Rassentrennung akzeptierten, ein System, das die politische Macht der weißen Amerikaner zunächst weiter festschrieb.
Der "Atlanta-Kompromiss"
Es war die Geburt einer Strategie, die Historiker als den "Atlanta-Kompromiss" bezeichnen. Dazu passte der Slogan, mit dem die Stadt in den 1950er-Jahre warb – the city too busy to hate –, eine Business-orientierte Metropole, die ihre rassistische Vergangenheit hinter sich gelassen hat und einer prosperierenden Zukunft entgegenstrebt. Die Wirklichkeit sah anders aus.
Während der Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre setzten Martin Luther King und seine Mistreiter auf Gewaltfreiheit, Pragmatismus und Integration – eine Strategie, die nicht bei allen Afroamerikanern ankam: Malcolm X, der sich für einen radikalen und, wenn notwendig, gewaltsamen Widerstand aussprach, nannte King abfällig einen "Hausneger". Black Lives Matter steht eher in der Tradition von Malcolm X als Martin Luther King.
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Auch Kings politische Erben in Atlanta lehnen radikale Lösungen ab. Andrew Young, Kings ehemaliger Weggefährte und späterer Bürgermeister von Atlanta, nannte die Black-Lives-Matter-Aktivisten "unsympathische, verzogene Gören". Nur sein hohes Alter und seine historische Rolle bewahrten ihn vor einem allzu üblen Shitstorm.
Die amtierende schwarze Bürgermeisterin von Atlanta, Keisha Lance Bottoms, richtete Ende Mai einen Appell an plündernde Demonstranten: "Wenn ihr eure Stadt liebt, geht nach Hause." Einige Aktivisten warfen der Bürgermeisterin vor, Black Lives Matter in den Rücken zu fallen. Bis der Umsturz nach Atlanta kommt, dürfte es also noch etwas dauern. (Katja Ridderbusch aus Atlanta, 29.9.2020)
