Es riecht nach einem neuen Krieg im Kaukasus: Die Kampfhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan sind auch am Montag weitergegangen und haben längst das Niveau der üblichen Bataillen überschritten. Das aserbaidschanische Verteidigungsministerium vermeldete stolz die Tötung von 550 feindlichen Soldaten und die Liquidierung von jeweils mehr als einem Dutzend Flugabwehrraketensystemen und Drohnen sowie mehreren Artilleriegeschützen.

Seit Jahren gibt es zwischen Armenien und Aserbaidschan Kämpfe um die umstrittene Region Bergkarabach.
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Auf der anderen Seite erklärte das armenische Militär, 200 Soldaten, 30 Panzer und 20 Drohnen vernichtet zu haben. Naturgemäß geben beide Konfliktparteien ihre eigenen Verluste deutlich niedriger an, aber die 31 von der Regierung in Bergkarabach eingeräumten eigenen toten Soldaten vermitteln einen Eindruck von der Schwere der Gefechte. Der UN-Sicherheitsrat tritt am Dienstag zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen.

In Bergkarabach wird wieder geschossen. Die umstrittene Region ist so groß wie Oberösterreich, aber nur halb so bevölkert wie das Burgenland.
Foto: EPA/VAHRAM BAGHDASARYAN

Baku und Eriwan bereiten sich seit Jahren auf den Tag X vor, an dem sich das Schicksal der umstrittenen Gebirgsregion entscheiden muss. Nur militärisch, denn andere Optionen werden weder in Aserbaidschan noch in Armenien ernsthaft in Betracht gezogen. Speziell in Baku sind die Revanchegelüste groß, verlor Aserbaidschan doch das mehrheitlich von Armeniern bewohnte Bergkarabach nach einem blutigen Bürgerkrieg 1991–1994 faktisch an seinen Nachbarn.

Bakus Armeemilliarden

Demografie und Ökonomie helfen Aserbaidschan bei seinen Ambitionen zur Rückeroberung. Mit inzwischen rund zehn Millionen vorwiegend jungen Einwohnern ist das Land mehr als dreimal so groß wie das schrumpfende Armenien. Der Ölboom der vergangenen Jahre hat zudem die Kriegskasse von Präsident Ilham Alijew gut gefüllt. 2,24 Milliarden US-Dollar steckt Baku pro Jahr ins Verteidigungsbudget, Armenien bloß 625 Millionen. Bei den Panzerkräften hat Aserbaidschan so inzwischen ein vierfaches Übergewicht, bei den Luftstreitkräften immerhin ein doppeltes.

Doch für einen langwierigen Krieg fehlt es auch Aserbaidschan an Ressourcen. Schwachpunkt ist die Ausbildung des Offizierskorps, die Zeit erfordert. Der Ersatz unausweichlicher Verluste wäre für Armenien bei einem Krieg noch viel schmerzhafter. Schon jetzt liefert Russland, wichtigster Verbündeter Armeniens, Rüstung auf Kredit. Moskau hat eine Basis im Land, die Armenien, eingekeilt zwischen Aserbaidschan und der Türkei, als Schutzschild dient. Doch Moskau hat wenig Interesse, sich in den Konflikt hineinziehen zu lassen, und ruft beide Seiten zu einem Ende der Gefechte auf.

Während sich Russland als wichtigste Einflussmacht im Südkaukasus seit Sonntagnachmittag bemüht, den neu aufgeflammten Konflikt nicht in einen regelrechten Krieg ausarten zu lassen, ist die Türkei als zweite wichtige Macht von außen eher bemüht, Aserbaidschan auch in einem möglichen Krieg den Rücken zu stärken. Nach dem Motto "zwei Staaten, eine Nation" versicherte Präsident Recep Tayyip Erdoğan dem "Führer des Brudervolkes", Aserbaidschans Präsidenten Alijew, unverbrüchliche Solidarität und verurteilte die angebliche armenische Aggression scharf.

Türkische Medien verbreiteten am Montag einhellig das Bild einer angegriffenen aserbaidschanischen Nation, die Unterstützung gegen einen Aggressor brauche. Auch nach einem langen Telefonat zwischen dem russischen Außenminister Sergej Lawrow und seinem türkischen Kollegen Mevlüt Çavuşoğlu änderte sich die Tonlage in Ankara nicht. Am Montag legte Verteidigungsminister Hulusi Akar noch einmal nach und beklagte die vielen zivilen Opfer der armenischen Aggression.

Islamisten aus Syrien

Die türkische Regierung scheint tatsächlich willens, Aserbaidschan in einem möglichen Krieg auch militärisch zu unterstützen. Und das nicht nur mit Militärmaterial und Drohnen, sondern auch mit einer bereits in Syrien und Libyen bewährten Vorgangsweise.

Dieses Video soll syrische Kämpfer zeigen.

Unterschiedliche Quellen berichten, dass sich in Aserbaidschan bereits syrische Söldner aufhalten, die in der von der Türkei besetzten syrischen Grenzregion Afrin angeheuert und dann von der Türkei nach Baku geflogen wurden. Von dort sollen sie als Kanonenfutter nach Bergkarabach geschickt werden. Laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte sollen bereits 300 Kämpfer der überwiegend turkmenischen Murat-Brigade und Jihadisten der al-Amshad-Brigade nach Aserbaidschan geschickt worden sein.

Einer der besten Kenner des Kaukasus in der Türkei, der Journalist Fehim Taştekin, schrieb: "Der Einsatz jihadistischer syrischer Milizen wird immer mehr zu einem Kennzeichen von Erdoğans Außenpolitik." Trotzdem ist die Behauptung des armenischen Botschafters in Moskau wohl übertrieben, der bereits 4.000 syrische Jihadisten in Aserbaidschan gezählt haben will. Türkische Medien kontern dagegen mit der Behauptung, Armenien hätte kurdische PKK-Kämpfer nach Bergkarabach geholt.

Es scheint, dass sich Erdoğan nach Syrien, Libyen und seinen Provokationen gegenüber Griechenland nun auch noch im Kaukasus in einen bewaffneten Konflikt stürzen will. Beobachter rätseln noch, was er damit erreichen möchte. Neben dem Zugriff auf die aserbaidschanischen Gas- und Ölvorräte im Kaspischen Meer, so Taştekin, könnte er Putin so zu mehr Zugeständnissen in Libyen und Syrien zwingen. (André Ballin aus Moskau, Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 28.9.2020)