Florian Krammer kommt aus Voitsberg, hat an der Universität für Bodenkultur in Wien Biotechnologie studiert und dort eine Doktorarbeit über Influenzaviren geschrieben. 2010 ging er in die USA, um im Labor von Peter Palese an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York zu arbeiten. 2014 hat er dort eine eigene Arbeitsgruppe gegründet und ist Professor am Department für Mikrobiologie.

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16 Milliarden Impfdosen werden gebraucht werden, es ist gut, dass sehr viele Hersteller an einem Impfstoff arbeiten, sagt Mikrobiologe Florian Krammer.

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STANDARD: Sie haben in der Zeitschrift "Nature" eine Übersichtsarbeit zum Stand der Corona-Impfstoffforschung veröffentlicht. Wie ist die aktuelle Situation?

Krammer: Es gibt über 180 verschiedene Impfstoffprojekte, und viele davon sind tatsächlich ernsthafte Kandidaten. 40 Impfstoffe sind in einer klinischen Prüfungsphase und zehn davon in der klinischen Studienphase III, also jener, die die Ergebnisse für eine Zulassung liefert.

STANDARD: Sie rechnen mit einer Zulassung noch 2020?

Krammer: Es sieht derzeit gut aus, und ich nehme an, dass zumindest in den USA ein oder mehrere Impfstoffe bis Ende des Jahres auf dem Markt sein werden. Dass muss aber nicht heißen, dass große Mengen davon verfügbar sind. Vor allem jene Impfstoffe, die auf RNA-Technologie setzen, sind erwartungsgemäß vorne, wie etwa jener, den Pfizer zusammen mit Biontech entwickelt, oder der Impfstoff von Moderna. Darüber hinaus gibt es einige sehr interessante Impfstoffe, die zum Beispiel in China oder Indien entwickelt werden.

STANDARD: Wer ist am weitesten?

Krammer: Am weitesten in der Prüfungsphase ist Astra Zeneca zusammen mit der Oxford University. Sie haben auch als Erste mit der klinischen Prüfungsphase III begonnen. Dabei handelt es sich um einen auf einem viralen Vektor basierenden Impfstoff. Dieser Impfstoff wird anscheinend auch in Österreich verwendet werden, sollte er in der Phase III erfolgreich sein.

STANDARD: Es gibt viele unterschiedliche Arten, Impfstoffe zu produzieren. Jene, von denen Sie sprechen, sind die sogenannten genetischen Impfstoffe, oder?

Krammer: Jeder Impfstoff, der Zellen des Impflings manipuliert, könnte als genetischer Impfstoff kategorisiert werden, inklusive klassischer Lebendimpfstoffe wie Masern oder Polio. Viren selbst machen ja auch nichts anderes, als unsere Zellen zu manipulieren. mRNA-Impfstoffe nehmen da einfach eine Abkürzung. Aber es gibt viele molekularbiologische Wege, um einen Impfstoff herzustellen. Der Vorteil der mRNA-Impfstoffe ist, dass sie im Gegensatz zu manchen anderen Entwicklungsplattformen sehr schnell in großen Mengen hergestellt werden können.

STANDARD: Was müssen die ersten Impfstoffe in den Studien bewiesen haben?

Krammer: Dass sie in einer sehr großen Anzahl von Menschen eine Immunantwort hervorgerufen haben und vor Covid-19 schützen, also dass sie in dem Sinne wirksam sind, und dass es keine wirklich besorgniserregenden Nebenwirkungen bei den Probanden und Probandinnen gab.

STANDARD: Was war mit der Nebenwirkung bei einem Probanden des Astra-Zeneca-Impfstoffs?

Krammer: Da ist im Prinzip alles genauso gelaufen, wie es sollte. Man hat gesehen, dass unter den Impflingen in einem Kollektiv von mehr als 10.000 Menschen zweimal ein jeweils unterschiedliches medizinisches Phänomen aufgetreten ist, das abgeklärt werden musste. In so einem Fall wird die Studie gestoppt, und ein unabhängiges Komitee untersucht die Vorkommnisse. Genau so soll es sein. Man hat dann festgestellt, dass es vermutlich keinen Zusammenhang mit der Impfung gibt, und die Studie wurde fortgesetzt. Das ist übrigens bei vielen klinischen Studien in dieser Phase der Fall, war also zu erwarten. Diesmal ist die weltweite Aufmerksamkeit nur wesentlich höher gewesen als sonst.

STANDARD: Die Impfungen müssen in klinischen Studien beweisen, dass sie sowohl wirksam als auch sicher sind. In Ihrem Übersichtsartikel benennen Sie aber auch alles, was man bei einer Zulassung noch nicht wissen wird, etwa die anhaltende Wirksamkeit. Kann man trotzdem eine Zulassung riskieren?

Krammer: Wie lange der Impfschutz besteht, kann tatsächlich nur die Zeit zeigen. Insgesamt sollte man Impfen eher als einen Prozess sehen. Momentan ist klar: Bei gesunden Erwachsenen und älteren Menschen scheinen die Impfungen in den Studien eine gute Immunantwort hervorzurufen, das zeigen die Daten. Sehr voraussichtlich wird man bei so gut wie allen Impfstoffen zwei Dosen brauchen. Das hat die Auswertung der Studiendaten ebenfalls ergeben. Man wird dann sehen, wie lang der Impfschutz anhält. Es kann schon sein, dass man nach ein paar Jahren eine Auffrischungsimpfung braucht, wie man das von der FSME-Impfung kennt.

STANDARD: Welche Ergebnisse fehlen darüber hinaus?

Krammer: Wirksamkeitsstudien an Kindern zum Beispiel, denn das Immunsystem von Kindern ist anders als das von Erwachsenen oder alten Menschen, das sieht man ja auch bereits bei den Erkrankungen selbst. Kinder reagieren oft auch stärker auf Impfungen, etwa mit Fieber. Man muss daher Studien durchführen, um zu sehen, wie gut verschiedene Impfstoffe von Kindern vertragen werden. Diese Studien beginnen aber normalerweise erst, wenn klar ist, dass der Impfstoff in Erwachsenen sicher ist.

STANDARD: Wie genau sieht aus Sicht eines Impfstoffexperten die Zukunft dann aus?

Krammer: Nach dem positiven Abschluss der Studien werden nach und nach Impfstoffe auf den Markt kommen. Diese Impfstoffe müssen sich dann auch in der Realität bewähren, also in der sogenannten klinischen Phase IV. Es wird unterschiedliche Impfungen geben, und in einer kontinuierlichen Analyse und einem Vergleich wird man die Vorteile und die eventuellen Nachteile der einzelnen Impfungen sehen und gegeneinander abwägen. Das kann dann dazu führen, dass man Impfstoffe adaptiert, weiterentwickelt und verbessert. Oder dass Impfstoffe, die in der Anfangsphase auf dem Markt waren, durch andere ersetzt werden. Es ist auch möglich, dass mit der Zeit Impfstoffe entwickelt werden, die in speziellen Zielgruppen besonders gut funktionieren, also zum Beispiel speziell für Kinder oder Hochrisikogruppen.

STANDARD: Wo genau ist in diesem Prozess der Unterschied zum russischen Impfstoff Sputnik V?

Krammer: Der russische Impfstoff wurde schon nach einer kleinen Phase II zugelassen, ohne dass man eine Phase III durchgeführt hat. Außerdem gibt es einige Fragen zu den Daten der Phase-I- und -II-Studien.

STANDARD: Was daran ist problematisch?

Krammer: Man kann nicht einfach einen Impfstoff, von dem man nicht weiß, ob er funktioniert und ob er sicher ist, auf die Bevölkerung loslassen. Um Effizienz und Sicherheit zu testen, sind Phase-III-Studien da. Die kann man nicht einfach auslassen. Wer als Proband bei einer Studie der Phase III mitmacht, wird über mögliche Risiken informiert und macht das freiwillig. Die Leute werden aufgeklärt, sie bekommen einen Gesundheitscheck, sie füllen Fragebögen in der Vorbereitung aus, und viele führen auch eine Art Tagebuch, um Nebenwirkungen aufzuzeichnen. Und wenn es zu einem Problem kommt, dann haben sie sofort einen ärztlichen Ansprechpartner, der über die Teilnahme an der Impfstudie Bescheid weiß. Sämtliche Nebenwirkungen werden so genau registriert – von leichten wie dem Schmerz an der Einstichstelle über erhöhte Temperatur bis hin zu Kopfschmerzen.

STANDARD: Mit dem Begriff "Nebenwirkung" kann ja auch ein sehr breites Spektrum an Symptomen gemeint sein.

Krammer: Genau. Das reicht vom Schmerz an der Einstichstelle oder Rötungen bis hin zu Kopfweh oder erhöhter Temperatur. All das ist für Geimpfte unangenehm, aber vorübergehend und ohne Folgen. Es könnte aber auch schwerere Nebenwirkungen geben, etwa Veränderungen im Blutbild oder systemische Veränderungen, Autoimmunerkrankungen. Darauf muss vor allem geachtet werden. Der aktuellen Auswertung zufolge scheinen die mRNA-Impfstoffe und virale Vektoren allerdings die eher harmlosen Nebenwirkungen zu verursachen.

STANDARD: Was ist der Vorteil dieser Dokumentation?

Krammer: Dass man weiß, welche Nebenwirkung auftreten – sie sind als Nebenwirkungen aufgeführt, und weder Arzt noch Patient sind überrascht. Es ist alles dokumentiert. Wenn man eine Studie macht, kann man sie auch stoppen oder den Impfstoff am Ende nicht zulassen, wenn die Nebenwirkungen zu schwer sind oder zu oft auftreten. Beim russischen Impfstoff kann es sein, dass schwere Nebenwirkungen auftreten, dann aber nicht mit dem Impfstoff in Zusammenhang gebracht werden und man sie dadurch übersieht.

STANDARD: Am Anfang der Pandemie war immer wieder die Rede von einer gefährlichen Nebenwirkung, dem Antibody-dependent Enhancement. Kurz gesagt: einer Impfung, die die Krankheitssymptome verstärken kann. Was ist damit?

Krammer: Wir haben keinerlei Hinweise, dass dieses Phänomen bei Sars-CoV-2 auftritt. Man war anfangs sehr vorsichtig durch Erfahrungen mit Sars-CoV-1 in einigen Tiermodellen. Bei Sars-CoV-2 wurde das Phänomen bis jetzt aber auch im Tiermodell nicht beobachtet.

STANDARD: Was ist mit den Mutationen des Virus selbst – spielt dieser Faktor auch eine Rolle?

Krammer: Coronaviren mutieren, aber es findet nicht dieser Antigen-Drift wie bei Influenzaviren statt. Deshalb muss gegen Influenza ja jedes Jahr wieder neu geimpft werden. Die Impfung ist sozusagen jedes Jahr neu, weil auch das Virus immer andere Eigenschaften hat. Wir wissen, dass Coronaviren in dieser Hinsicht eher stabil sind. Das sehen wir auch bei humanen Coronaviren, die Erkältungen auslösen. Ich glaube, da muss man sich wenig Sorgen machen.

STANDARD: Ein aktuelles Diskussionsthema ist auch die Verfügbarkeit einer Impfung. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Krammer: Wenn man davon ausgeht, dass bei so gut wie allen Impfungen zwei Dosen notwendig sein werden, dann brauchen wir 16 Milliarden Impfdosen. Deshalb sehe ich es als sehr positiv, dass es mehrere Hersteller in verschiedenen Ländern gibt. Eine Pharmafirma allein könnte niemals diesen riesigen Bedarf decken. Es könnte aller Voraussicht nach auch bei Verpackungsmaterial für Impfstoffe wie Glasphiolen oder Spritzen zu Engpässen kommen.

STANDARD: Wie könnte der Stufenplan für eine Impfung denn aussehen?

Krammer: In den USA arbeitet die National Academy of Sciences gerade an einem Plan, wie solche Impfstoffe verteilt werden sollen. Ich gehe davon aus, dass als Erste jene geimpft werden, die stark exponiert sind. Wahrscheinlich wird man medizinisches Personal, Polizisten und Feuerwehrleute deshalb zuerst impfen. Wichtig sind aber auch ältere Menschen oder Menschen mit Vorerkrankungen, weil deren Risiko für einen schweren Verlauf verhältnismäßig höher ist. Die werden vermutlich anfangs auch bevorzugt geimpft.

STANDARD: Jüngere haben tendenziell doch sowieso weniger oft schwere Verläufe ...

Krammer: Impfungen können zwei verschiedene Wirkungen haben: Sie können vor Erkrankungen schützen, aber leichte Infektionen zulassen. In dem Fall kann man das Virus vielleicht auch auf andere übertragen. Oder Impfungen verhindern eine Infektion komplett. Da kommt es sehr auf die Art des Impfstoffs an. Die unteren Atemwege, also vor allem die Lunge, sind leicht durch Impfungen zu schützen. Es sind Impfungen, die in den Muskel injiziert werden, das schützt vor schweren Erkrankungen.

STANDARD: Und die oberen Atemwege?

Krammer: Sie werden von solchen Impfungen kaum geschützt, da kann es deshalb vielleicht auch in Geimpften zu milden oder asymptomatischen Infektionen kommen, die dann weitergegeben werden. Alle Impfstoffe, die momentan im Rennen vorne dabei sind, werden injiziert und induzieren diese Art von Immunität. Es kann sein, dass zum Beispiel erst jene Impfungen, die mit einem nasalen Spray verabreicht werden, den Nasen-Rachen-Raum schützen und Infektionen komplett verhindern. Es wird also unter Umständen auch unterschiedliche Darreichungsformen einer Impfung geben.

STANDARD: Denken Sie, dass es noch ganz große Überraschungen geben könnte, etwa dass eine Impfung wegen neuer, schwerer Nebenwirkungen nicht kommt?

Krammer: So sieht es derzeit nicht aus. Doch bis die Zulassungsstudien abgeschlossen und ausgewertet sind, ist es theoretisch möglich. Aber die Tatsache, dass es so viele verschiedene Impfstoffe gibt, macht es unwahrscheinlich, dass ein Problem mit allen Kandidaten auftritt. Die Unternehmen haben übrigens Milliardensummen in die Hand genommen und produzieren diese Impfstoffe ja schon auf Risiko. Wenn sie nicht funktionieren, müssten sie entsorgt werden.

STANDARD: Gibt es durch die Pandemie auch einen Innovationsschub in der Impfstoffentwicklung?

Krammer: In den letzten 100 Jahren gab es insgesamt vier Influenzapandemien. Erstmals werden die neuen Technologien zur Impfstoffentwicklung auch tatsächlich erprobt. Ich denke, dass das sehr wichtig ist, denn wir haben mit Sars-CoV-2 irgendwie auch Glück gehabt.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Krammer: Ein neues Virus könnte ja wesentlich tödlicher sein als Sars-CoV-2. Sagen wir, ein Krankheitserreger hätte eine Letalität von 50 Prozent, da wäre ein Jahr Wartezeit auf einen Impfstoff definitiv zu lange.

STANDARD: Ist das realistisch?

Krammer: Es gibt viele Beispiele von Viren, die gelegentlich auf den Menschen überspringen. Ein Beispiel – abgesehen von Vogelgrippeviren –, bei dem ich mir Sorgen mache, sind sogenannten Nipah-Viren, die ebenfalls in Fledermäusen zirkulieren und auf den Menschen übertragbar sind. Sie lösen eine Gehirnhautentzündung aus, die in der Hälfte aller Fälle tödlich verläuft. Das Virus wurde aber auch schon über die Atemwege von Mensch zu Mensch übertragen. Wir hoffen, dass durch die derzeitige Pandemie auch das Verständnis steigt, solche Infektionserkrankungen zu erforschen, bevor es zu einem großen Ausbruch kommt. Je mehr man im Vorhinein weiß, umso schneller kann man reagieren. Das zeigt ja auch die University of Oxford. Die konnten auf ihren Erfahrungen in der Erforschung anderer Coronavirusimpfstoffe aufbauen. Deshalb waren sie auch sehr schnell.

STANDARD: Was muss passieren?

Krammer: Die Forschung an zoonotischen Viren – das sind Viren, die von Tieren auf Menschen überspringen – und Impfstoffen gegen diese Viren ist unterfinanziert. Man hat vor allem in der Politik nicht verstanden, wie wichtig sie sind. Wenn man für die Zukunft gerüstet sein will, muss man vorausschauend investieren. Genau das zeigt die Coronavirus-Pandemie. (Karin Pollack, 29.9.2020)