Sterbehilfe polarisiert die Gesellschaft heute stärker als vor 30 Jahren.

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Vor dem Verfassungsgerichtshof wurde vergangene Woche eine öffentliche Verhandlung zum Thema Sterbehilfe abgehalten. Die Antragsteller wollen erreichen, dass der VfGH die Paragrafen 77 (Tötung auf Verlangen) und 78 (Mitwirkung am Selbstmord) des Strafgesetzbuches für verfassungswidrig erklärt. Zwei andere Formen der Sterbehilfe – passive und indirekte – sind in Österreich erlaubt.

Wie immer der VfGH entscheidet, in der Bevölkerung ist es in den letzten Jahrzehnten zu einem massiven Wandel in den Einstellungen zur Sterbehilfe gekommen. Die Europäische Wertestudie fragt seit 1990 in regelmäßigen Abständen nach der Meinung der Bevölkerung auf einer Skala von eins ("unter keinen Umständen in Ordnung") bis zehn ("jedenfalls in Ordnung"). Die Grafik unten zeigt, wie sich die Verteilung der Antworten auf diese Frage zwischen 1990 und 2018 verschoben hat.

Überwogen 1990 noch die skeptischeren Antworten (in Rot), so dominieren 2018 die eher zustimmenden (in Grün). Der Mittelwert der gegebenen Antworten erhöhte sich von 3,7 (1990) auf 4,4 (1999 bzw. 2008) und weiter auf 6,1 im Jahr 2018. Der Anteil der Befragten mit der stärksten Ablehnung (Skalenpunkt 1: "unter keinen Umständen in Ordnung") fiel von 38 auf 31 und schließlich auf 15 Prozent. Im Gegenzug stiegen die 10er-Antworten ("jedenfalls in Ordnung") von sechs auf 20 Prozent.

Ein wahrscheinlicher Grund für diesen Wandel sind Säkularisierungstendenzen. In den letzten 30 Jahren war die Zahl regelmäßiger Kirchgänger stark rückläufig. Aber selbst innerhalb dieser Gruppe gibt es deutliche Verschiebungen (von Skalenmittelwert 3,1 zu 4,7), wenn diese auch etwas geringer ausfallen als bei den Nicht-Kirchgängern (von 4,2 zu 6,3).

Zudem fällt auf, dass zu allen Zeitpunkten viele Befragte Antworten im mittleren Bereich der Skala wählen. Für einen großen Teil der Menschen lautet die Antwort auf die Frage, ob Sterbehilfe erlaubt sein soll, also nicht einfach nur Ja oder Nein. Zum Teil mag das auf eine "Tendenz zur Mitte" im Antwortverhalten zurückzuführen sein. Jedenfalls nehmen die äußersten Extreme mit der Zeit leicht ab: Wählten 1990 noch 44 Prozent der Befragten Antwort 1 oder 10, so waren es 2018 nur mehr 36 Prozent.

Das bedeutet interessanterweise aber nicht, dass es insgesamt mehr Konsens gibt. Zieht man Van der Eijks Übereinstimmungsmaß heran (-1 = keine Übereinstimmung; +1 = volle Übereinstimmung), so sinken die Werte zwischen 1990 und 2018 sukzessive von 0,36 auf -0,09. Während also die extremsten Standpunkte abnehmen, gibt es dennoch eine Zunahme der Polarisierung. Das liegt schlicht und einfach daran, dass sich die Antworten heute gleichmäßiger über die gesamte Skala verteilen und nicht mehr am unteren Ende clustern, wie das noch 1990 der Fall war.

Selbst wenn der Verfassungsgerichtshof also den nun vorliegenden Anträgen nicht nachgibt, ist die politische Debatte damit sicher nicht vom Tisch. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 29.9.2010)