"Ist das eine Aufstiegsspur?" Isabella sah hinunter. Ins Tal auf der Höhe. Denn auch wenn der Katschberg in Wirklichkeit eine Höhe ist und 1.640 Meter über dem Meer liegt, war das Hoteldorf mit seinen gerade einmal 46 "echten" Einwohnern jetzt weit unter uns. Rund 400 Höhenmeter.

Und obwohl wir neben der Bergstation der Seilbahn standen, hatten wir uns diese 400 Meter selbst erarbeitetet: Die Tschaneckbahn ist noch im Off-Season-Dornröschenschlaf. Wer hier raufwill, der oder die muss gehen. Oder laufen. Und genau das hatten wir getan. Isabella und ich waren von hinten gekommen – und staunten jetzt ein bisserl: War das, was sich in kleinen Serpentinen dort drüben die Piste hinaufmäanderte, tatsächlich eine Skitouren-Aufstiegsspur? War da heute jemand noch winterlicher unterwegs gewesen als wir?

Foto: thomas rottenberg

Das Tschaneck ist kein "harter" Gipfel. Es ist auch kein Geheimtipp. Beim Pistenskifahren sowieso nicht. Und beim Tourengehen auch nicht: Als "schöne Einsteigertour mit Abfahrt über die Skipiste" wird die Runde auf "Alpenverein Aktiv" beschrieben. Und als Wanderung ist das Tschaneck eine Kinderjause. "Besonders mit Kindern eignet sich die Wanderung … Der Wanderweg ist nicht zu weit und die Aussicht auf die umliegenden Berge gut", heißt es auf "Familienurlaub Info".

Genau das ist auch die Positionierung der Region: Der Katschberg ist Familienurlaubsgebiet. Nicht ganz seit Matthias Bogensberger hier 1957 seinen ersten Lift gebaut hat, aber gefühlt doch seit ewig. Mittlerweile macht der Skitourismus aber nur noch 45 Prozent der Nächtigungen aus – aber der Fokus ist auch im Sommer klar: Familien. Urlaub mit Kindern. Easy. Natur.

Foto: thomas rottenberg

All das hatte ich aber erst danach, als Isabella und ich wieder im Tal auf der Höhe waren, gegoogelt: Wir waren einfach losgelaufen. Planlos und bergauf. So wie man das am Berg eigentlich nicht machen sollte, es in einer Region wie dieser aber halt schon ganz gern tut.

Wenn man – also in dem Fall: frau – die Gegend wie die eigene Westentasche kennt. Wenn man zumindest ein Handy dabeihat. Wenn man kaum je außer Sichtweite der Homebase ist. Wenn die Routen und Wege "kindgerecht" beschildert und ausgebaut sind – auch wenn man das nicht sieht. Weil da bis zu 40 Zentimeter nasser Neuschnee liegen: Da wird aus dem "Kindergeburtstags"- Auslockerungsläufchen nämlich eben doch eine intensive Stapferei.

Foto: thomas rottenberg

Erst recht, wenn man die Höhe nicht gewohnt ist: Wien liegt ein bisserl tiefer. Aber am Mittwoch war ich in der Neuen Donau noch im Freiwasser geschwommen. Am Dienstag beim Laufen hatte ich noch das Shirt ausgezogen. Gut, am Freitag war ich auf der Hauptallee dann schon im Regen unterwegs gewesen, und es hatte abgekühlt. Aber am Wochenende dann auf 1.600 Metern einfach mal bergauf anzurennen kann dann trotzdem was. Auch ohne Schnee. (Dieses Bild ist vom Samstag, dem Tag vor dem Lauf mit Isabella. Da war ich auf einer Akklimatisationsrunde – die eher ein Spaziergang war.)

Schnee gab es hier gerade jede Menge. Zumindest für September. Obwohl das, sagten die Locals, eh normal ist: Mitte oder Ende September schmeißt es hier demnach meistens einmal was runter. Das schmilzt dann rasch wieder – aber dann ist Herbst. Aber die 40 Zentimeter, die Freitag und Samstag gefallen waren, seien, hieß es, "doch eher viel".

Foto: thomas rottenberg

Ich war nicht zum Winter-Schnuppern hergekommen. Der Lauf – eigentlich die beiden Läufe, ich war tags zuvor ja kurz ohne Guide unterwegs gewesen – im Schnee war nur der "Kollateralnutzen" einer ganz anderen Geschichte über den Katschberg und die Suche nach nachhaltigen, zukunftsträchtigen Tourismuskonzepten.

Als ich meine Gastgeber – Isolde und Wolfgang Hinteregger, die tonangebenden Hoteliers hier oben – vorab gefragt hatte, wo ich hier zwischendurch laufen könnte, reichten sie den Hörer einfach weiter: Für solche Fragen sei "die Isabella" die richtige Ansprechpartnerin. Die sei nämlich nicht nur Betriebsleiterin von zwei Hinteregger-Häusern hier oben, sondern eben auch Läuferin. "Ja klar, da find ma was", hatte Isabella Knoll ins Telefon gelacht – und dieses Lachen verriet nichts Gutes. Oder eigentlich: viel Gutes. Das klang nicht nach den sonst oft üblichen Drei-Kilometer-Dorf-Spazier-Runden.

Foto: thomas rottenberg

Isabella Knoll spielt nämlich – was den Zugang zum Draußensein angeht – in meiner Liga. Leistungsmäßig schlägt sie mich. Locker. Die 29-Jährige ist Ironman-Finisherin (Klagenfurt 2019), hat etliche Halb-, Sprint- und olympische Triathlons absolviert, ist Bergläuferin und Mountainbikerin – und begeisterte Skitourengeherin.

Die Bergretterinnen-Ausbildung, erzählte sie mir unterwegs, wenn mir wieder mal die Puste ausging und wir vom Laufen ins Gehen wechselten, habe sie jobbedingt derzeit aufgeschoben. Aber das stehe sowohl für sie (als auch ihren Hund) noch auf der To-do-Liste – schließlich sei ihr Freund ja auch bei der Bergrettung. Und genauso, wie sie beide gemeinsam dem Tri-Wahnsinn anheimgefallen seien, sei das auch überall sonst: "Viele Männer halten es noch immer nicht aus, wenn sie am Rad, beim Laufen oder am Berg von einer Frau überholt werden. Aber das ist ihr und nicht mein Problem."

Foto: thomas rottenberg

Isabella war eh gnädig. Und trabte in einem (für sie) dezenten Tempo los. Den "Herzerlweg" ging es rauf. Der ist ein gemütlicher Ziehweg, vorbei an Kühen und Weiden, hinauf zur Marienkapelle. Unterwegs stolpert man alle paar Meter über nett-kitschige Holz- und Herz-Intarsien –, und auch wenn das nicht mein Ding ist und mich Hammer-Naturblicke auch ohne Deko begeistern, ist das doch etwas, was viele Menschen beim Spazierengehen freut und sie in die Natur, an die Luft, holt.

Dass die meisten Leute dann nach eineinhalb Tagen Sommerende-Schneefall und Matsch-Gatsch-Wolkenwetter dann dennoch eher nicht unterwegs sind, störte mich an diesem Tag aber nicht: Es ist hier zwar wahrlich genug Natur für alle da – aber "ohne Leut" ist es manchmal auch ganz fein.

Foto: thomas rottenberg

Mir persönlich ist dieses Herzerlweg-Land-Art-Konzept zwar etwas zu kitschig, aber das ist egal: Alles, was Menschen glücklich macht und anderen nicht wirklich wehtut, ist grundsätzlich gut.

Alpine Romantik und "Heiraten am Berg" etwa könnte man hier mit dem vollen Programm: Von der Open-Air-Verlobung über die Bergheirat in der kleinen Marienkapelle, vor der Jesus-Statue mit Hammer-Panorama oder exakt auf der Grenze zwischen Kärnten und Salzburg hin zur Hochzeitsfeier auf der "Kuschelalm" (Homepagetext: "Hochbetten, Kuschelnester und bequeme Holzliegen sowie Freiluft-Massagen und Yoga-Einheiten sorgen für entspannende Momente, während die privaten Kuschelhütten den perfekten Rückzugsort für eine erholende Zeit zu zweit bieten") gibt es alles – und wird dem Vernehmen nach auch gerne und oft gebucht.

Foto: thomas rottenberg

Wie gesagt: Dass das nicht mein Ding ist, gibt mir und auch sonst niemandem das Recht, es anderen madig zu machen. Ich renn halt lieber durch die Landschaft. Und was daran super ist, schnaufend und keuchend auf gatschigen Wegen bei jedem Schritt drauf aufpassen zu müssen, nicht wegzurutschen, während einem das Eiswasser in die Schuhe schwappt, wird und muss nicht jeder und jede verstehen.

Erklären kann man das nicht. Spüren schon. Und damit meine ich nicht die nassen Füße oder die kalten Zehen: Solange man läuft, bleiben die – gefühlt – eh warm.

Aber danach, daheim oder im Hotel, staune ich dann jedes Mal, wie dreckig, nass und kalt Schuhe, Socken und Füße werden können – ohne dass man es überhaupt mitbekommt.

Foto: thomas rottenberg

Doch genau das ist mit das Tückische am Traillaufen. Auch und gerade auf so einfachen, kurzen Runden wie der, die Isabella und ich liefen: Tags zuvor war ich ohne Guide kurz unterwegs gewesen. Ich kenne die Region nur peripher.

Also hatte ich einen Rucksack mit Ersatzshirt, Windjacke, Handy, Wasser, Riegel und einer Rettungsdecke mit: Einmal Umknöcheln genügt – sogar wenn man sich dann noch langsam humpelnd weiterschleppen kann, kühlt man rascher aus, als man "Holt mich hier raus!" sagen kann.

Nicht nur auf 2.000 Metern Seehöhe und in den Niederen Tauern: Sogar im Leithagebirge sind Menschen schon erfroren. Ausgesetzt und oberhalb der Baumgrenze geht das aber leichter und schneller.

Foto: thomas rottenberg

Isabella und ich wissen das natürlich. Erstens weil wir viel (wenn auch nie genug) am Berg sind. Zweitens weil wir beide einschlägige Ausbildungen und Erfahrung haben. Dass wir dennoch ohne jede Ausrüstung unterwegs waren, damit zu erklären, dass wir uns "eh auskennen", wir "eh erfahren" sind und "eh in der Gegend bleiben" und das Wetter "eh okay" ist und vor allem die Strecke "eh augeschildert und easy" ist, ist zwar nicht wirklich gefährlich oder fahrlässig, aber eben auch nicht wirklich gescheit.

Und knapp nach der Salzburg-Kärnten-Grenze beschlossen wir dann auch noch, einen Weg zu nehmen, den Isabella noch nie gelaufen war: Klar wussten wir, wo wir rauskommen würden. Klar wäre jeder von uns auch auf allen Vieren wieder heimgekommen. Trotzdem: Gescheit ist anders. Erst recht, wenn man es eh weiß.

Aber manchmal ist es draußen einfach zu schön, um vernünftig zu sein.

Foto: thomas rottenberg

Auch wenn die Dramaturgie des Textaufbaus des vorigen Bildes suggeriert, dass in diesem Slide jetzt irgendwas Dramatisches, Gefährliches oder zumindest Kritisches passiert: Nein, da war nix. Es war einfach nur wunderschön, da durch den ersten Schnee des Jahres zu laufen.

Die Blicke. Die Gipfel. Das Licht. Die Wolken. Der Wind. Die Stille.

Das Tal auf der Höhe mit seinen Hotels, seinen Liften, Pisten und dem "geordneten", inszenierten Alpinerlebnis lag auf der anderen Seite der Kuppe.

Nur eine Biegung und ein paar hundert Meter außer Blickweite.

Aber hier existierte nichts davon mehr: Da waren nur die Berge. Groß. Ewig.

Und wir. Klein. Irrelevant. Und glücklich: Solche Momente lehren Demut. Dankbarkeit. Man kann sie nicht kaufen, denn sie sind unbezahlbar – und kosten dennoch nichts. Man muss nur aufstehen und loslaufen. Oder gehen.

Foto: thomas rottenberg

Oben. Neben uns liegt die Tschaneck-Bergstation. Eine Seilbahn im Dornröschenschlaf. Vor uns die Piste zurück ins Tal auf der Höhe: tiefer, unübersichtlicher Boden. Unsichtbare schneegefüllte Löcher und kleine Bachläufe, in die man bis übers Knie einsinken kann und einsinkt.

Wir rutschen mehr als wir liefen – und staunen wieder einmal, wie steil noch die einfachste Skipiste ist, wenn man runterrennt – oder geht.

Natürlich könnten wir die Forststraße nehmen. Oder einen Wanderweg. Aber so macht es mehr Spaß.

Foto: thomas rottenberg

EPILOG

Außer uns ist weit und breit niemand zu sehen.

Nur eine einzige, einsame Spur mäandert sich die Piste herauf. Von oben sah sie zunächst fast wie eine Skitouren-Aufstiegsspur aus – allerdings war nirgendwo eine Abfahrtsspur.

Aber das kommt noch: Winter is coming. Bald.

Und obwohl ich den Sommer liebe, freue ich mich darauf. (Thomas Rottenberg, 30.9.2020)

Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Der Aufenthalt am Katschberg war eine Einladung des Hotels Lärchenhof

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