Leopold Pallua und Rosa Zant als Oskar und Lilli. Durch ihre Darstellung nimmt der Film gegen Ende eine Wendung vom grimmigen Realismus zu märchenhaften Zügen.

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Rosa Zant als Lilli, die mit ihrem Bruder und ihren Eltern aus Tschetschenien nach Österreich geflohen ist.

Es kommt oft auf die Perspektive an. Eine Straßenlaterne kann, sehnsuchtsvoll betrachtet, zu einem Vollmond werden, eine Badarmatur zu einem Gesicht, eine Erinnerung zu einem Traum, das Ende eines Lebens zum Beginn von etwas Neuem. Und Ortsa und Leila werden zu Oskar und Lilli.

Die beiden Geschwister haben in Arash T. Riahis Film Ein bisschen bleiben wir noch ihre Namen geändert, um in ihrer neuen Heimat Österreich weniger aufzufallen. Vor sechs Jahren sind sie mit ihren Eltern aus Tschetschenien geflohen. Während der Vater bald wieder abgeschoben wurde, ging die Mutter in der Erwartung einer ständig drohenden Abschiebung psychisch zugrunde. Nach einem Selbstmordversuch kommt sie in eine Klinik, Oskar (Leopold Pallua) und Lilli (Rosa Zant) werden zwei verschiedenen Pflegefamilien zugeteilt. Getrennt entwickeln sie unterschiedliche (Über-)Lebensstrategien, das gemeinsame Ziel bleibt aber die Wiederherstellung der familiären Einheit.

Der Filmemacher Riahi, im Iran geboren und selbst als Kind nach Wien gekommen, sieht sein jüngstes Werk als Mittelstück einer Trilogie über Fluchterfahrungen. Hatte ihr erster Teil, Ein Augenblick Freiheit (2008), eine dokumentarische Anmutung, fällt das fast gänzlich durch die Augen der Kinder erzählte Ein bisschen bleiben wir noch ungleich verspielter aus. Als wesentliche Inspirationsquelle diente Monika Helfers 1994 erschienener Roman Oskar und Lilli. Dessen Protagonisten haben allerdings keinen Migrationshintergrund, sondern werden allein aufgrund der psychischen Erkrankung der Mutter getrennt.

Wo man mit wem sein Bett teilt

Doch auch in Riahis Film ist die Frage der nationalen Herkunft, wenn auch Handlungskatalysator und im Hintergrund stets mitschwingend, nicht das zentrale Thema. Vielmehr ist es der unterschiedliche Umgang der beiden Kinder mit der Krise der Trennung voneinander und von einem gemeinsamen Zuhause, in die sie durch das Jugendamt geworfen werden. Es geht, weiter und über alle Charaktere gefasst, schlicht um den Wunsch nach einem Platz in dieser Welt. Oder, wie es der Film illustriert, wo man mit wem sein Bett teilt.

Lilli landet bei der herzlichen Ruth (Simone Fuith), die sich mit viel Einsatz das Vertrauen der 13-Jährigen erarbeitet. In der neuen Schule teilt sie einen Tisch und erste Zigaretten mit Betty (Anna Fenderl), deren Jugend dank einer Mutter, die sich ihre Drogensucht auf dem Straßenstrich finanziert, auch nicht friktionsfrei verläuft.


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Der achtjährige Oskar kommt bei einer lustvoll überzeichneten Lehrerfamilie unter. Die "Lehrers" essen kein Fleisch und betonen die Wichtigkeit musischer Erziehung, sind mit ihren Moralvorstellungen aber ebenso überfordert wie mit dem eigenen Sohn und der an Parkinson erkrankten Großmutter Erika (Christine Ostermayer). Der fantasievolle Rebell Oskar ist nicht nur der Einzige, der sich der bisher nur in Form von Tablettenspenden umsorgten Erika annimmt, er ist tatsächlich das Herz des ganzen Films.

Seine kindliche Neugier und Neunmalklugheit sorgen für Humor, Wärme, Poesie und Leichtigkeit, womit die Traurigkeit erträglich wird. Stellenweise lässt er den Film gar zu einem Kevin – Allein zu Haus mit sozialkritischer Note werden. Es ist unverkennbar, wie nahe Riahi sich seinem jüngsten Protagonisten fühlt.

Kinowunderwaffe Kinder

So steckt in dem Film eine Überfülle unterschiedlichster Emotionen. Dadurch, dass beide Kinder in ihrem Teil der Geschichte über ihre Bezugspersonen Betty und Erika mit weiteren sozialen Schwierigkeiten konfrontiert werden, ist aber auch die Zahl der beackerten Problemfelder keine kleine. Kollateralschaden dieses Krisendauerfeuers ist der Strang um Lilli und ihre wüst auftretende Schulfreundin, der nicht befriedigend auserzählt wird.

Die Kinowunderwaffe Kinder wirkt jedoch nicht nur in Form des großartigen Darstellerduos den Kritikpunkten entgegen. Aus der kindlichen Wahrnehmung heraus kann der Film zu seinem Ende hin märchenhafte Züge annehmen, die ihn den stellenweise grimmigen Realismus leichter transzendieren lassen als eine Fototapete in der Gemeindebautristesse, die Oskar und Lilli zu Beginn bewohnen. Ob diese Geschichte aber wie Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern endet oder doch mehr im Diesseits verankert bleibt, ist einmal mehr davon abhängig, welche Perspektive der Betrachter einnimmt. Im Kino

(Dorian Waller, 30.9.2020)