Sarah Louise Nash von der Universität für Bodenkultur und Harald Sterly von der Universität Wien schreiben in ihrem Gastkommentar über alarmistische Prognosen und deren Rezeption in der laufenden Flüchtlingsdebatte.

Fast genau zum fünften Jahrestag der großen Fluchtbewegungen von 2015 füllen Flucht und Migration wieder die Schlagzeilen. Als das Flüchtlingslager in Moria niedergebrannt war, haben sich zwar einige EU-Staaten gefunden, die einer Handvoll unbegleiteter Minderjähriger die Einreise ermöglicht haben – Österreich zählte allerdings nicht dazu. Hier wird gegen die Aufnahme von einigen Kindern argumentiert, weil das andere ermuntern würde, die gleiche Reise auf sich zu nehmen. Und das soll um jeden Preis verhindert werden. Oder doch nicht? Da ist der Nationalrat sich nämlich uneinig. Es gibt weder für die Aufnahme noch für die Nichtaufnahme von Kindern aus Moria eine Mehrheit. Zu Wahlkampfzeiten scheint die österreichische Politik tief in der Migrationszwickmühle zu stecken.

Fluchtgrund Naturereignis? Daten über die Anzahl internationaler Umweltflüchtlinge gibt es nicht.

Foto: AFP / Thomas Lohnes

Es stellt sich aber die Frage, wie Österreich in Zukunft mit dem Thema Migration umgehen will. Am 8. September ist ein Bericht mit dem bedrohlichen Titel "Ecological Threat Register" (übersetzt: Verzeichnis ökologischer Bedrohungen) veröffentlicht worden, der bis zum Jahr 2050 etwa 1,2 Milliarden Vertriebene durch Umweltkatastrophen und Konflikte prognostiziert. Besorgniserregend ist nicht diese Zahl an sich (die ist nämlich so gut wie erfunden). Vielmehr spiegeln der Bericht und seine mediale Rezeption die Problematik des aktuellen Migrationsdiskurses wider. Das lässt Ungutes für zukünftige Debatten um Migrationspolitik erahnen, in denen der Faktor Klimawandel eine immer stärkere Rolle spielen wird.

Methodisch unhaltbar

Zahlen sind immer mit Vorsicht zu genießen. Das hat auch der Bundeskanzler unlängst zu spüren bekommen, nachdem von ihm wiedergegebene Zahlen von Experten drastisch korrigiert wurden: Statt, wie behauptet, 200.000 Menschen, die seit 2015, und 3700 Kinder, die heuer Asyl in Österreich bekommen haben, waren es dann nur noch 108.081 beziehungsweise 571. Von den 200.000 Anträgen ist nämlich nur die Hälfte anerkannt worden, und viele der Kinder sind nicht nach Österreich gekommen, sondern hier geboren. Das ist eben das Schwierige mit Zahlen – man muss sie richtig einordnen.

Genau das ist das Problem mit den "1,2 Milliarden Umweltflüchtlingen": Das Ecological Threat Register basiert zwar auf verlässlichen Daten, nämlich den jährlichen Zahlen des Internal Displacement Monitoring Center (IDMC, Zentrum zur Beobachtung von Binnenvertreibung) für Binnenvertriebene durch Umweltkatastrophen und politische Gewalt. Für den Bericht wurden diese jährlichen Zahlen von 2008 bis 2019 aber einfach addiert und bis ins Jahr 2050 hochgerechnet.

Das ist methodisch unsinnig, weil diese Zahlen häufig sehr kurzfristige Wohnortverlagerungen angeben – wer vor einem tropischen Sturm fliehen muss, kehrt meist so rasch wie möglich zurück, um Haus und Hof wiederaufzubauen. Es sagt also gar nichts darüber aus, wie viele Menschen wegen des Klimawandels migrieren werden. Die Daten des IDMC beziehen sich außerdem nur auf Vertreibung innerhalb von Landesgrenzen – Zahlen für international Geflüchtete aufgrund von Naturereignissen gibt es schlicht nicht. In dem Bericht wird aber aus den Zahlen für Binnenvertreibungen auf internationale Migration geschlossen. Anders als die Kurz’schen Aussagen in den ORF-Nachrichten wurden die Thesen des Ecological Threat Register auch in Leitmedien fast ausnahmslos unkommentiert veröffentlicht, unter anderem im ORF, in der New York Times und im britischen Guardian. Quelle war eine Pressemitteilung der wenig bekannten Organisation Institute for Economics and Peace, die den Bericht erstellt hat.

In Zeiten knapper Ressourcen ist es zwar verständlich, dass auf solches Material zurückgegriffen wird – angesichts der Bedeutung der Nachricht (1,2 Milliarden "Klimaflüchtlinge"!) und der politischen Brisanz wäre es aber durchaus angemessen gewesen, hier nachzuhaken. So haben diese Artikel unkritisch falsche und alarmistische Prognosen reproduziert.

Fehlende Sorgfaltspflicht

Die fehlende journalistische Sorgfaltspflicht ist in diesem Fall so problematisch, weil solche Zahlen und die Darstellung von Geflüchteten als Bedrohung für Europa konkrete Wirkungen auf die Politik haben. Auch Klimaaktivistinnen und -aktivisten greifen gelegentlich auf solche Zahlen zurück, um die Notwendigkeit von ambitionierterem Klimaschutz zu untermauern. Mittlerweile wissen wir jedoch aus Studien, dass diese Strategie nicht greift – im Gegenteil: Während die Forderung für mehr Klimaschutz verhallt, bleibt im politischen Resonanzraum die Angstprojektion vor Milliarden von "Klimaflüchtlingen" hängen und Migrationspolitik wird verschärft.

Wenn sich Regierungen also schon jetzt nicht einigen können, wenige Hundert unbegleitete Kinder aufzunehmen – wie mögen geo- und migrationspolitische Debatten erst aussehen, wenn sich solche (noch einmal: komplett haltlose) Projektionen von 1,2 Milliarden Flüchtenden festsetzen? (Sarah Louise Nash, Harald Sterly, 30.9.2020)