Reinhard Gösweiner (48), hier bei den Olympischen Spielen 2018 im ÖOC-Gewand, hat viele ÖSV-Erfolge mitzuverantworten. Als er zum Nachwuchs versetzt wurde, streckte er seine Fühler aus.
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Klassisch telefonieren könnte in dem Fall teuer werden, Reinhard Gösweiner ruft über Whatsapp zurück. "Ich bin gerade in Weißrussland", sagt er, "in Raubitschy." Nur zwanzig Kilometer nördlich der Hauptstadt Minsk liegt dieser Wintersportkomplex, der als Trainings- und Wettkampfstätte für Langlauf, Biathlon und Skispringen, aber auch als Urlaubsort vor allem für Familien gilt. Gösweiners Familie ist freilich daheim in Oberösterreich geblieben, er ist rein beruflich hier. Der 48-Jährige hat im Mai als Biathlon-Damen-Cheftrainer in Belarus unterschrieben.

Grund genug, Gösweiner zu kontaktieren, schließlich hat sich in Belarus seither nicht wenig getan. Seit den Wahlen im August, nach denen sich Präsident Alexander Lukaschenko zum überlegenen Sieger erklären ließ, demonstrieren Zehntausende in der Überzeugung, dass das Wahlergebnis manipuliert wurde. Lukaschenko geht mit brutaler Gewalt gegen die friedlichen Proteste vor, er ließ sich auch vereidigen, verliert aber die Anerkennung immer mehr europäischer Staaten. Österreich, einer der wichtigsten Wirtschaftspartner von Minsk, ist dabei nicht so weit gegangen wie etwa Deutschland. Doch Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) lobte den Mut der Opposition in Belarus, trat für Sanktionen ein, sagte: "Der Geist der Veränderung ist draußen aus der Flasche."

Von diesem Geist, sagt Reinhard Gösweiner, habe er nichts mitbekommen. "Das geht komplett an mir vorbei", sagt er über die Proteste. Seit er im Mai antrat, fliegt er zwischen München oder Wien und Minsk hin und her, ungefähr zwanzig Tage im Monat verbringt er in Raubitschy, wo sein Team seit fünf Monaten stationiert ist.

Kein Thema

Sieben Biathletinnen und sechs Biathleten gehören der Nationalmannschaft an, zudem sind immer wieder Junioren und Mitglieder des lokalen Vereins vor Ort. Gösweiner: "Manchmal sind bis zu hundert Leute da." Auch innerhalb der Mannschaft seien, soweit er das mitbekomme, die Demonstrationen gegen Lukaschenko und die Staats-Gewalt kein Thema. "Es wird nicht wirklich darüber geredet. Ich kann sowieso nicht mitreden, ich muss mich auf den Sport konzentrieren. Ich will mich auch gar nicht einmischen. Dafür habe ich von der Politik hier zu wenig Ahnung."

Gösweiner war seit 2000 für den Österreichischen Skiverband (ÖSV) tätig, zeitweise im Nachwuchsbereich, zeitweise als Herren-Cheftrainer, er zeichnete speziell für Erfolge von Christoph Sumann und Dominik Landertinger mitverantwortlich. Als er nach den Olympischen Spielen 2018 vom Deutschen Ricco Groß abgelöst und wieder zum Nachwuchs versetzt wurde, lag auf der Hand, dass er seine Fühler ausstreckte. "Ich wollte noch einmal etwas Neues versuchen", sagt er. Von Belarus und den Trainingsbedingungen dort hatte er viel Gutes gehört. Die sportlichen Möglichkeiten interessierten ihn mehr als die Tatsache, dass Belarus als letzte Diktatur Europas galt und gilt.

Doch aus familiären Gründen war es "schon ein großes Thema, ob ich diesen Schritt tun soll oder nicht". Dass ihn die Frau und die Kinder nicht begleiten würden, war immer klar. Die ältere Tochter (23) und der Sohn (18) sind sowieso quasi längst flügge, und die jüngere Tochter (13) geht auch lieber daheim als in Belarus in die Schule. Als die Familie und Freunde in Österreich im TV sahen, wie in Minsk die Gewalt eskalierte, riefen viele an. "Ich habe alle beruhigen können."

Domratschewas Appell

Belarus ist eine Biathlonmacht, vor allem im Damenbereich. Allerdings haben zwei herausragenden Athletinnen, Darja Domratschewa (viermal Olympiagold) und Nadseja Skardsina (einmal Olympiagold) aufgehört. Domratschewa, Ehefrau des norwegischen Superstars Ole Einar Björndalen, galt lange als Liebkind Lukaschenkos. Sie schenkte ihm Kopien ihrer wichtigsten Trophäen, trat mit ihm auf, wenn er ein Stadion eröffnete oder den Grundstein für einen Spitalsbau legte.

Vor Monaten noch hatte sich Lukaschenko ein Comeback Domratschewas gewünscht. Da war doch sehr bemerkenswert, dass sie nun zu einem "Ende der Gewalt" aufrief. Skardsina stellte sich noch deutlicher gegen den Präsidenten, der auch dem Olympischen Komitee von Belarus vorsteht. Lukaschenko hat sich die Popularität vieler Sportlerinnen und Sportler oft zunutze gemacht, er gilt als großer Sportsfreund, spielt selbst auch regelmäßig Eishockey.

Stars gegen Lukaschenko

Umso mehr Gewicht hat es, dass nun auch viele Sportlerinnen und Sportler gegen Lukaschenko auftreten. Ein vom Handballmanager Alexander Apeikin verfasster Protestbrief wurde von fast 700 Unterstützern unterschrieben. "Wir haben die Chance auf ein neues Land", sagte Apeikin, der nach Kiew flüchtete und wie viele Landsleute auf Neuwahlen hofft, im STANDARD-Sportmonolog.

Das alles ist in Raubitschy zwanzig Kilometer nördlich von Minsk kein Thema, oder Gösweiner bekommt es nicht mit. Er hat für zwei Jahre unterschrieben, Ziel sind die Olympischen Winterspiele 2022 in Peking. "Die Trainingsbedingungen sind top", sagt er. Sieben Kilometer Rollerbahn stehen zur Verfügung, sie ist sieben Meter breit, das braucht den internationalen Vergleich nicht zu scheuen.

Allein wegen Corona ist vieles eingeschränkt. Die Athletinnen und Athleten konnten Raubitschy seit Monaten kaum verlassen. Auch hinter oder eigentlich vor der kommenden Saison stehen viele Fragezeichen. Und es ist ein Nachteil, dass Raubitschy nur 200 Meter hoch liegt. Noch hofft der österreichische Cheftrainer, mit den Belarus-Biathletinnen auch ein Trainingslager in Österreich aufschlagen zu können. "Abwechslung", sagt Reinhard Gösweiner, "wäre gut." (Fritz Neumann, 30.9.2020)