Aus irgendeinem Grund scheinen popkulturelle Prognosemethoden den wissenschaftlichen überlegen zu sein: Jahr für Jahr geben Wettbüros im Vorfeld des Song Contest die angeblichen Favoriten bekannt. Und obwohl in dieser Liste auch so mancher Kandidat auftaucht, bei dem man rätselt, was er den anderen voraushaben soll, spiegeln diese Vorhersagen mit gespenstischer Regelmäßigkeit tatsächlich das spätere Spitzenfeld wider – Sieger inklusive.

Bei den Nobelpreisen (die allerdings auch kein fest definiertes Teilnehmerfeld haben) sah die Trefferquote bislang deutlich bescheidener aus. Und das, obwohl es nicht an professionellen Prognosen mangelt: Von Wissenschaftsbloggern über Fachmagazine bis zu Unternehmen, die auf die Auswertung von Daten spezialisiert sind, werden jedes Jahr wieder potenzielle Nobelpreiskandidaten aufgelistet.

Die mögliche Nobel-Klasse 2020

Allen voran der Datenanalysekonzern Clarivate Analytics: Das zu ihm gehörende Institute for Scientific Information (ISI) versucht den jeweiligen Jahrgang der "Nobel-Klasse" anhand der Publikations- und Zitierungsdaten wissenschaftlicher Arbeiten in den preisrelevanten Forschungsbereichen auszumachen. Von rund 50 Millionen seit 1970 im "Web of Science" erfassten Artikeln wurden nur 5.700 oder 0,01 Prozent 2.000 Mal oder öfter zitiert. Sie gelten damit als besonders einflussreich – und ihre Autoren dadurch auch als Favoriten für den Nobelpreis.

Seit 2001 wurden vom ISI 360 sogenannte Citation Laureates ausgewählt – tatsächlich erhalten haben ihn davon allerdings nur 54. Nichtsdestotrotz wurden heuer 24 neue Favoriten gekürt, die aus sechs Ländern (USA, Kanada, Deutschland, Japan, Südkorea und Großbritannien) kommen. Österreicher ist diesmal keiner dabei, in den vergangenen Jahren wurde etwa der Mediziner Gero Miesenböck oder die Physiker Peter Zoller und Anton Zeilinger genannt.

Die einzelnen Kategorien

Zu den Favoriten für den Nobelpreis in Physiologie oder Medizin zählen für Clarivate heuer Pamela J. Bjorkman (California Institute of Technology) und Jack L. Strominger (Harvard University) für die Aufklärung von Struktur und Funktion der Proteine des Haupthistokompatibilitätskomplexes (MHC), was zur Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen beigetragen hat. Weiters genannt wurden Yusuke Nakamura (Universität Tokio und Universität Chicago) für die Entwicklung genetischer Marker und genomweiter Assoziationsstudien, die personalisierte Ansätze zur Krebsbehandlung ermöglichen, und Huda Y. Zoghbi (Baylor College of Medicine und Howard Hughes Medical Institute) für ihre Entdeckungen über die Entstehung neurologischer Störungen, etwa der genetischen Ursachen des Rett-Syndroms.

Für ihre Entdeckung, dass sich zwei oder mehrere chaotische Systeme synchronisieren können, werden Thomas L. Carroll und Louis M. Pecora (beide U.S. Naval Research Laboratory) von Clarivate zu den diesjährigen Favoriten für den Physik-Nobelpreis gezählt. Das gilt auch für Hongjie Dai (Stanford University) und Alex Zettl (University of California, Berkeley), und zwar für die Herstellung und Anwendungen von Kohlenstoff- und Bornitrid-Nanoröhren. Zum Favoritenkreis im Bereich Physik zählen auch Carlos S. Frenk (Durham University), Julio F. Navarro (University of Victoria) und Simon D.M. White (Max-Planck-Institut für Astrophysik) für ihre Studien zur Entstehung und Entwicklung von Galaxien, der kosmischen Struktur und Dunkle-Materie-Halos.

Als Favoriten in der Kategorie Chemie wurden Moungi G. Bawendi (Massachusetts Institute of Technology, MIT), Christopher B. Murray (University of Pennsylvania) und Taeghwan Hyeon (Seoul National University) in die diesjährige "Nobel-Klasse" aufgenommen, und zwar für die Synthese von Nanokristallen mit präzisen Eigenschaften für eine breite Palette von Anwendungen. Dazu kommen Stephen L. Buchwald (MIT) und John F. Hartwig (University of Californa, Berkeley) für ihre Beiträge zur metallorganischen Chemie, insbesondere die Buchwald-Hartwig-Kupplung genannte Reaktion, sowie Makoto Fujita (Universität Tokio) für Fortschritte in der supramolekularen Chemie durch von der Natur inspirierte Strategien zur Selbstorganisation.

Als Favoriten für den Nobel-Gedenkpreis für Wirtschaftswissenschaften wurden von Clarivate David A. Dickey (North Carolina State University) und Wayne A. Fuller (Iowa State University) für einen nach ihnen benannten statistischen Test in Zeitreihenanalysen, sowie Pierre Perron (Boston University) für die statistische Analyse von nicht-stationären Zeitreihen genannt. Ebenso im Favoritenkreis ist Claudia Goldin (Harvard University) für ihre Beiträge zur Arbeitsökonomie, insbesondere ihre Analyse zum geschlechtsspezifischen Lohngefälle. Schließlich wurden Steven T. Berry und James A. Levinsohn (beide Yale University) sowie Ariel Pakes (Harvard University) für ihr Modell zur Nachfrageschätzung in die illustre Gruppe aufgenommen.

Bald ist es so weit

Ob und wie oft das ISI diesmal richtig lag, wird sich nächste Woche zeigen: Der Nobelpreisreigen beginnt kommenden Montag (5. Oktober) mit Medizin, gefolgt von Physik (6. Oktober) und Chemie (7. Oktober). Der Preisträger für Wirtschaftswissenschaften wird am 12. Oktober bekanntgegeben. (red, APA, 30.9.2020)