Rügt den Bundeskanzler: Heinrich Neisser.

Foto: Matthias Cremer

Wien – Wer die Mitte des neunten Lebensjahrzehnts erreicht hat, braucht auf parteipolitische Bindungen nicht mehr allzu viel Rücksicht nehmen – da sagt man, was zu sagen ist. Und das tut Heinrich Neisser, der unter Josef Klaus Staatssekretär, in der Regierung Vranitzky-Mock Minister, unter Erhard Busek Klubobmann und anschließend Zweiter Nationalratspräsident war, auch: "Es hat Auswirkungen, wenn der Herr Bundeskanzler von ‚juristischen Spitzfindigkeiten‘ spricht", sagt er über seinen Parteichef Sebastian Kurz.

Dessen Regierung wirft er vor, in der Pandemie nicht in solidarischer Verantwortung, sondern entlang parteilicher Interessen zu handeln, wenn ein Minister so tut, als habe er mit Verordnungen eines vom Koalitionspartner geführten Ressorts nichts zu tun – eine "staatspolitische Nachlässigkeit und Oberflächlichkeit".

Das sagte Neisser am Mittwoch bei der Präsentation des Demokratiebefunds, einer Denkschrift, die seine Initiative Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform alljährlich vorlegt.

Kurz stärkte Vertrauen in Politik

Dieser Bericht legt allerdings nahe, dass der von Neisser kritisierte Kanzler durchaus einen Beitrag zur Vertrauensbildung in der Politik geleistet hat – seit Kurz Parteichef ist, ist nach Zahlen des OGM-Instituts das Vertrauen in die Politik gestiegen.

2015 hatten nur sechs Prozent "sehr viel" und weitere 16 Prozent "eher" Vertrauen in die Politik. Unter der Kanzlerschaft von Kurz 2018 sprangen die Werte auf elf plus 34 Prozent und erreichen nun sieben (sehr viel Vertrauen) plus 45 Prozent. Nur 14 Prozent bekunden heute "gar kein Vertrauen", halb so viele wie im von der Flüchtlingskrise geprägten Jahr 2015.

Insgesamt beklagt Neisser, dass Demokratie nicht mehr jene Selbstverständlichkeit ist, mit der man jahrzehntelang rechnen konnte – das 1989 als siegreich aus dem Kalten Krieg hervorgegangene Konzept der parlamentarischen Demokratie sei in vielen Ländern auf dem Rückzug, und auch in Österreich werde "die Rolle des Parlaments in wesentlichen Dingen vernachlässigt".

Dem würde wohl auch Jörg Leichtfried zustimmen: Der stellvertretende SPÖ-Klubobmann hielt gleichzeitig mit, aber getrennt von Neisser eine Pressekonferenz ab, in der er die "Respektlosigkeit" der Regierung beklagte. Diese zeige sich nicht nur darin, dass Kurz bei Oppositionsreden hauptsächlich in sein Handy starre. Besonders zeige sich diese Respektlosigkeit aber bei der Beantwortung von parlamentarischen Anfragen, bei denen es "gleichgeschaltet keine Antworten" gebe. (Conrad Seidl, 1.10.2020)